sub\urban. zeitschrift für kritische stadtforschung 2025, 13(1), 43-72

doi.org/10.36900/suburban.v13i1.965

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CC BY-SA 4.0

Ersteinreichung: 24. Dezember 2023

Veröffentlichung online: 2. Mai 2025

Feministische Perspektiven von pobladorxs auf Reparationen

Forderungen einer selbstorganisierten Wohnvereinigung aus Santiago de Chile

Julia Espinoza, Lisa Waegerle

Die Landbesitzverhältnisse in Abya Yala haben koloniale Wurzeln. Dieser Beitrag fokussiert die Gegebenheiten in Chile, wo sich Landbesitz bis heute insbesondere in den Händen weniger aristokratischer Familien befindet. Obwohl häufig die Besitzverhältnisse darüber entscheiden, ob und wo Sozialwohnungen gebaut werden können, werden koloniale Landbesitzverhältnisse bei Debatten über fehlenden sozialen Wohnraum kaum berücksichtigt und Diskussionen über notwendige Reparationen häufig aus Planungsprozessen und akademischen Planungskontexten ausgeklammert.

In unserem Beitrag beschreiben wir die Kämpfe der selbstorganisierten Agrupación por la vivienda Luchadores de Lo Hermida (Wohnvereinigung Kämpfer*innen von Lo Hermida) gegen ungleiche Landbesitzverhältnisse. Dabei stellen wir unsere Interpretation der Perspektiven der Wohnvereinigung LH auf Reparationsforderungen für würdige Wohnverhältnisse für den Stadtteil Lo Hermida (Santiago de Chile) dar. Wir zeigen, inwiefern integral-transformative Reparationen eine Möglichkeit zur Sichtbarmachung und Bekämpfung der historischen Ursachen geschlechtsspezifischer, rassifizierter und klassenbasierter Ausgrenzung und Gewalt darstellen. Abschließend erörtern wir, wie eine kritische Auseinandersetzung über Reparationen in der Wissenschaft und bei der Entscheidungsfindung im Bereich der Stadtplanung und -entwicklung aussehen könnte.

An English abstract can be found at the end of the document.

1. Einleitung

Ungleiche Landbesitz- und Landnutzungsverhältnisse sind in Chile teilweise durch koloniale Landnahmen und eine Elitenkontinuität zu erklären, deren Auswirkungen auf ungleiche Stadtverhältnisse im dortigen politischen Planungsdiskurs nicht ausreichend repräsentiert sind (Landherr/Graf 2017: 577 f.; Kaltmeier 2020: 64; Rivera Cusicanqui 2010: 83). Das zeigt beispielsweise die Analyse einschlägiger stadtentwicklungspolitischer Dokumente in Chile, in denen koloniale Ungerechtigkeiten aufgrund von Landbesitz und Landnutzung keine Rolle spielen (Waegerle 2021: 93 ff.).

Grundbesitz in Santiago de Chile ist sehr ungleich verteilt: Im Jahr 2022 besaßen Immobiliengesellschaften mit 37 Prozent, Banken, Versicherungsgesellschaften und Investmentfonds mit 18,5 Prozent sowie Privatpersonen mit 16 Prozent die meisten Grundstücke der Gesamtfläche in der Metropolregion Santiago (Gutiérrez 2022). Unter den zehn Familien, die aktuell am meisten potenzielles Bauland in der Metropolregion besitzen, sind jene, die zu den reichsten Familien Chiles gehören und Einfluss auf die Politik nehmen (ebd.). Das sind Gründe, warum nach Ansicht der Agrupación por la vivienda Luchadores de Lo Hermida (Wohnvereinigung Kämpfer*innen von Lo Hermida; im Folgenden Wohnvereinigung LH) in Chile staatliche Institutionen sowie ihre Planungsinstrumente und -prozesse die mit Landbesitz und Landnutzung verbundenen Ungerechtigkeiten nicht oder kaum in den Blick nehmen können.

In diesem Beitrag stellen wir Reparationsforderungen der Wohnvereinigung LH an die chilenische Regierung dar, die sie als notwendig für würdige Wohnverhältnisse für die población Lo Hermida erachten. Eine población ist ein Stadtteil, dessen Bewohner*innen konfrontiert werden mit ungerechten Verfügungs- und Zugangsrechten zu gesellschaftlichen Grundgütern wie Bildung, Gesundheitsversorgung und Arbeitsverhältnissen sowie zu politischen Partizipations- und Entscheidungsräumen. Lo Hermida ist eine población des Bezirks Peñalolén in Santiago de Chile mit circa 60.000 Bewohner*innen und wurde 1970 von diesen durch Landbesetzungen selbst gegründet sowie durch staatliche Maßnahmen urbanisiert (siehe hierzu Kap. 3; Grupo de Investigación Historia Lo Hermida 2013: 13). Lo Hermida ist bis heute bekannt für ihre politischen Kämpfe: Pobladorxs[1] und Bewohner*innen organisier(t)en sich sowohl während der Militärdiktatur als auch in den heutigen neoliberalen Stadtverhältnissen gegen staatliche Repression und für ein würdiges Leben. Beispielsweise kämpfen mehrere selbstorganisierte Wohnvereinigungen[2] für würdigen Wohnraum in Peñalolén, wie auch die Movimiento de Pobladores en Lucha (Bewegung der pobladores im Kampf, MPL), die international bekannt ist[3]. Des Weiteren finden bis zu sechs politische Karnevals im Jahr statt, die von den eigenen Bewohner*innen veranstaltet werden. Auch der Vorstand des Nachbarschaftstreffs Junta de Vecinos 18[4] ist im Rahmen demokratischer Wahlen von pobladorxs wiederangeeignet worden, damit sich dort Kinder, Jugendliche und soziale Organisationen regelmäßig treffen und vorbereiten können. Frauen* unterschiedlicher sozialer Organisationen Lo Hermidas bündeln und unterstützen die Kämpfe der pobladoras. Auch waren pobladorxs beziehungsweise ist ein poblador aktuell Teil des Gemeinderates, und es gab unterschiedliche Versuche, eine*n Bürgermeister*in zu stellen. Doch nicht alle pobladorxs unterstützen die Zusammenarbeit mit staatlichen Institutionen (A; B; C; D; E; F; G[5]).

Dieser Beitrag konzentriert sich auf die Wohnvereinigung LH, deren zentrale Forderungen die Schaffung würdigen Wohnraums mit angemessener Versorgungsinfrastruktur für die Bewohner*innen der población Lo Hermida sowie die Förderung öffentlicher und privater Investitionen in den Bereichen Wohnungsbau, Städtebau und Soziales sind. Notwendig hierfür ist verfügbares und bezahlbares Bauland im Bezirk Peñalolén. Neben der Errichtung von Sozialwohnungen geht es der Wohnvereinigung LH vor allem auch um die städtische Erneuerung eines Teils von Lo Hermida, der bisher kaum Parks, Grünflächen oder Erholungsräume für die Bewohner*innen bietet. Diese Forderungen sind aus einer feministischen Perspektive formuliert, da die Wohnvereinigung LH von Feminist*innen organisiert wird, die selbst aus Lo Hermida kommen – wie auch eine Autorin dieses Beitrags[6]. So definiert sich die Wohnvereinigung LH selbst als feministisch und bezieht sich als Referenz auf die neue pobladora: eine Bewohnerin einer población, die das eigene Erfahrungswissen als Bezugspunkt ihrer Kämpfe betrachtet. Für viele pobladoras bedeutet ein sicherer Wohnraum ohne Abhängigkeitsstrukturen von Partner*innen sowie der Familie eine Möglichkeit, sich von patriarchalen Strukturen befreien zu können. Wir sehen feministische Perspektiven auf Reparationen von pobladorxs als besonders relevant an, da sie rassistische Ideologien und koloniale sowie imperiale Logiken reflektieren (können) (Espinosa Miñoso/Gómez Correal/Ochoa Muñoz 2014: 14; Paredes 2017: 3 f.).

In unserem Beitrag plädieren wir dafür, koloniale Landbesitzverhältnisse sichtbar zu machen und Reparationen als notwendiges Instrument in Planungsinstrumente und -prozesse aufzunehmen. Dabei gehen wir wie folgt vor: Anhand der población Lo Hermida zeigen wir im zweiten Kapitel koloniale Kontinuitäten am Beispiel ungleicher Landbesitzverhältnisse auf. Darauf aufbauend stellen wir unseren Beitrag in den Kontext der weltweiten Kämpfe um Reparationen und leiten das Konzept der integral-transformativen Reparationen ab, das wir als Rahmen für die Analyse ungleicher Landbesitzverhältnisse vorschlagen. Im dritten Kapitel skizzieren wir historisch die Kämpfe von pobladorxs für das Recht auf würdigen Wohnraum in Chile und zeigen konkret am Beispiel der Wohnvereinigung LH, wie in ihrem Kampf um würdigen Wohnraum koloniale Kontinuitäten staatlich legitimiert werden. Im vierten Kapitel stellen wir unsere Interpretation der Perspektiven der Wohnvereinigung LH auf integral-transformative Reparationsforderungen dar, die die Erstautorin dieses Beitrags, Julia Espinoza, gemeinsam mit weiteren Gründer*innen der Wohnvereinigung LH für den Stadtteil Lo Hermida herausgearbeitet hat. Diese Reparationsforderungen haben das Ziel, andere urbane Zukünfte zu imaginieren und die kolonialen Kategorien, die dem aktuellen Städtebau und der Planung zugrunde liegen, sichtbarer zu machen. Die Reparationsforderungen der Wohnvereinigung LH reihen sich ein in vorherige und aktuelle soziale Gerechtigkeitskämpfe gegen Klassismus, Rassismus, koloniale Kontinuitäten und kapitalistische Produktionsverhältnisse. Als Schlussfolgerungen stellen wir drei Handlungsfelder dar, die wir als notwendig für eine kritische Auseinandersetzung über Reparationen in der Wissenschaft und bei der Entscheidungsfindung im Bereich der Stadtplanung und -entwicklung betrachten.

2. Ungleiche Landbesitzverhältnisse und die Relevanz integral-transformativer Reparationen

Laut der Stadtforscherin Ananya Roy darf Besitz nicht als selbstverständlich angesehen werden (GSAPP 2020). Eine solche Perspektivenverschiebung ermöglicht ein neues Verständnis von ungleichen Stadtverhältnissen und kann Auseinandersetzungen mit kolonialen Strukturen anstoßen. Denn weiterhin werden Reparationen in Bezug auf ungleiche Landbesitzverhältnisse aus Planungsprozessen und akademischen Planungskontexten ausgeklammert (Porter/Roy/Legacy 2021: 116 f.).

Kolonialität bezieht sich auf globale rassistische Machtstrukturen, die den Kolonialismus ermöglichten, weiterhin fortbestehen und Einfluss nehmen auf Lebens- und Wissensformen (Quijano/Kastner/Waibel 2019: 25 ff.; Montes Montoya/Busso 2007: 2). María Lugones plädiert anhand der Perspektive Kolonialität der Geschlechter dafür, nicht nur race als Ausgangspunkt zu betrachten, sondern vielmehr die Verwobenheiten geschlechtsspezifischer, rassistischer und kapitalistischer Machtverhältnisse (Lugones 2010: 745). Diese sich gegenseitig beeinflussenden Machtverhältnisse legen feministische Aktivist*innen in Abya Yala offen, indem sie sich den unsichtbar gemachten Perspektiven, wie beispielsweise dem Wissen von pobladoras, zuwenden (Espinosa Miñoso/Gómez Correal/Ochoa Muñoz 2014: 14). Das ist ein Grund, warum Julia Espinoza, Erstautorin dieses Beitrags und pobladora, ihre feministischen Perspektiven auf die Reparationsforderungen der Wohnvereinigung LH sichtbar macht. Wir verwenden in unserem Beitrag, angelehnt an die Wohnvereinigung LH sowie andere aktivistische Gruppen vor Ort, nicht die problematischen Fremdzuschreibungen Südamerika oder Lateinamerika, sondern den Begriff Abya Yala: Mit diesem bezeichneten die Kuna den Kontinent bereits vor der Ankunft der spanischen Kolonialisten, und er wird bis heute besonders als Symbol der Identität und des Respekts verwendet.

Am Beispiel der población Lo Hermida im Bezirk Peñalolén zeigen wir durch einen kurzen historischen Rückblick, wie koloniale Landnahmen und Elitenkontinuitäten bis heute dazu führen, dass die Landbesitzverhältnisse sehr ungleich verteilt sind. Bis ins 16. Jahrhundert hinein wurde das Gebiet Chacra de Macul, das heutige Peñalolén, landwirtschaftlich von unterschiedlichen Personen(-gruppen) genutzt, unter anderem von Vitacura, Apoquindo, Ñuñohue sowie Tobalahue y Macul (Corporación Cultural de Peñalolén 2023: 33). Ab 1540 eigneten sich Kolonialist*innen das Gebiet militärisch an, das daraufhin Teil des königlichen Besitzes und später durch die königliche Schenkung an den spanischen Kolonialisten Juan Jufré verteilt wurde (ebd.: 52; COTAM 2008: 763; Echaiz 1972: 19).

Bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts blieb Peñalolén ein agrarisch genutztes Gebiet mit großen Landgütern im Besitz weniger Adelsfamilien und einer schwachen städtischen Regulierung (Fuentes et al. 2011: 8; Giannotti/Schmeisser 2021: 112). Die Nachkommen der Adelsfamilien teilten in Peñalolén ab den 1920er-Jahren die Großgrundstücke in kleinere Parzellen auf, die sie später teilweise verkauften (Fuentes et al. 2011: 8; Mathivet/Pulgar 2011: 204). Die zu dieser Zeit ausschließlich männlichen Bürgermeister und Ratsherren in Peñalolén waren ebenfalls Besitzer von Ländereien, weshalb ihnen die Parzellierung und der Verkauf von Land zugutekamen (Giannotti/Cofré Schmeisser 2021: 112). Bis heute machen aristokratische Familien gemeinsam Geschäfte, so auch die Unternehmen LarrainVial und Penta, die einen großen Teil von Peñalolén besitzen (Gutiérrez 2022). Die Familie Larraín war eine der einflussreichsten Familien während der Kolonialherrschaft (Zúñiga 1999: 97).

Dieser knappe Überblick zeigt, wie ungleiche Landbesitzverhältnisse in Peñalolén historisch aufgrund von kolonialen Machtverhältnissen gewachsen sind und wie sich bis heute Landbesitz über Generationen hinweg in den Händen weniger einkommensstarker, weißer[7] Familien befindet. Diesen Zusammenhang zwischen Besitz und Weißsein hat die Rechtswissenschaftlerin Cheryl Harris in ihrem Essay „Whiteness as property“ dargestellt und am Beispiel der USA aufgezeigt, wie aufgrund der Entstehung von Privatbesitz Ausbeutung und Ausgrenzung bis heute legitimiert und durch race konstituiert werden (Harris 1993: 1713 ff.). Auch Brenna Bhandar untersucht in verschiedenen kolonialen Kontexten rechtliche Konfigurationen von Aneignung und Privatbesitz. Sie zeigt unter anderem, wie die koloniale Aneignung indigenen Landes durch europäische Konzepte von Besitz und Rassismus möglich wurde (Bhandar 2018: 5).

Gegen diese kolonialen Besitzverhältnisse und Besitzverständnisse wird weltweit gekämpft und dabei die Idee von Reparationen stark gemacht (CODHES 2017; Muñoz Rojo 2023; Svampa 2019: 38 ff. u. 89). Diese Reparationen beziehen sich auf unterschiedliche geographische Maßstabsebenen und Zeiträume und beruhen auf den Prinzipien der reparativen Gerechtigkeit, das heißt, sie zeigen besonders die Verwobenheiten zwischen vergangenem Unrecht und gegenwärtigen Ungleichheiten auf (Carstensen-Egwuom 2024: 289 f.). Ein bekanntes Beispiel für eine internationale Organisation, die Reparationsforderungen an europäische Regierungen stellt, ist die CARICOM, deren Mitglieder vor allem aus ehemaligen britischen Kolonialländern kommen (Buser 2016; Carstensen-Egwuom 2023: 237; Hill et al. 2019; Rauhut 2021: 163; Londoño Ortiz/Ortiz 2023; Tapias Saldaña et al. 2017). Die reparative Gerechtigkeit wird auch auf der Ebene der staatlichen Politik in verschiedenen Ländern empfohlen, wie zum Beispiel in Kolumbien, wo sie in allgemeine Gesetze aufgenommen wurde (Hill et al. 2019; Tapias Saldaña et al. 2017).

Reparationsforderungen beziehen sich nicht nur auf finanzielle Mittel, sondern auch auf die Anerkennung, dass ein Unrecht aufgrund kolonialer und imperialer Eingriffe geschehen ist. So forderten beispielsweise soziale Organisationen aus Kolumbien eine Verschiebung „des Diskurses über materielle Wiedergutmachung hin zu einem Diskurs über die Wiederherstellung der Würde, in dem die afroamerikanische Bevölkerung nicht mehr als Opfer, sondern Akteur des sozialen Wandels dargestellt wird“[8] (CODHES 2017: 51; Übers. d. A.).

In unserem Beitrag führen wir ein in das Konzept der integral-transformativen Reparationen. Dieses Konzept nimmt Bezug auf strukturelle und historische Diskriminierung und beinhaltet umfassende Lösungen als Voraussetzung von Reparationen. Wir sind der Meinung, dass diese Bezüge notwendig sind für würdigere Wohnverhältnisse, vor allem da die Entstehung europäischer Besitzverständnisse kritisch eingeordnet und Maßnahmen der Umverteilung sowie gemeinschaftliche Besitzformen anerkannt werden können. Für die Systematisierung der Reparationsforderungen der Wohnvereinigung LH (siehe Kap. 4), erscheinen uns integral-transformative Reparationen aus einer feministischen Perspektive als besonders zentral, da hinter der Wohnvereinigung LH ein politisches Projekt steht, das Transformationsprozesse anstoßen kann, und der Kampf um würdigen Wohnraum in Lo Hermida historisch und aktuell besonders von Frauen* geführt wurde beziehungsweise wird.

Dabei knüpfen wir zum einen an die Rechts- und Sozialwissen­schaftlerinnen Tania Gicela Bolaños Enriquez und Diana Patricia Quintero (2022) an, die Reparationen im Rahmen des bewaffneten Konflikts in Kolumbien betrachten und sich auf integral-transformative Reparationen als eine Möglichkeit zur Bekämpfung der historischen Ursachen von sozialer Ausgrenzung und Gewalt beziehen:

„Die transformative Wirkung der Reparation tritt ein, wenn sie nicht nur den Schaden behebt, sondern auch die Stereotypen und Praktiken korrigiert, die die Diskriminierung der Bevölkerung aufrechterhalten, insbesondere die strukturelle und historische Diskriminierung von Minderheiten, und so Gleichheit und Integration fördert.“[9]

(Bolaños Enriquez/Quintero 2022: 118; Übers. d. A.)

Zum anderen beziehen wir uns auf integral-transformative Repa­rationsforderungen, die im Rahmen der Verfassungsgebenden Ver­sammlung 2021 in Chile von sozialen Bewegungen und Organisationen sowie Wissenschaftler*innen ausgearbeitet wurden und das Ziel verfolgten, die soziale Gerechtigkeit in den Mittelpunkt der Ausarbeitung der Verfassung zu stellen (Comisión de Derechos Humanos de la Convención Constitucional 2021). Zentrale Forderung ihres Abschlussberichts war es, Reparationen als integral-transformativen Prozess zu verstehen.

Reparationsmaßnahmen aufgrund ungleicher kolonialer Land­besitzverhältnisse – in Anlehnung an die Ergebnisse in Chile, die im Rahmen der Verfassungsgebenden Versammlung 2021 ausgearbeitet wurden, sowie an die Arbeiten von Bolaños Enriquez und Quintero – sollten unserer Ansicht nach umfassend sein, das heißt kontinuierlich und im Prozess veränderbar, damit sie eine transformative Wirkung entfalten können. Zudem sind mehrdimensionale und territoriale Maßnahmen zu bevorzugen, die integral die historischen, sozialökologischen, sozialgesundheitlichen, politischen und sozialökonomischen Besonderheiten des Territoriums sowie geschlechtsspezifische Kriterien auf allen geographischen Maßstabsebenen betrachten. Bei der Auswahl von Maßnahmen ist zuletzt eine kollektive Perspektive notwendig, die strukturelle, geschlechtsspezifische Gewalt bei der Planung, Gestaltung und Umsetzung von Reparationsmaßnahmen aus einer intersektionalen Perspektive berücksichtigt (ebd.: 22 ff.).

Demnach beschränken sich Reparationen aufgrund ungleicher Landbesitzverhältnisse nicht auf die Rückgabe von Land oder auf die Zahlung einer finanziellen Entschädigung wegen asbesthaltiger Baumaterialien. Maßnahmen für integral-transformative Reparationen verfolgen die Aufarbeitung systemischer Verletzungen, beispielsweise gesundheitsbezogener Mehrfachbelastungen in poblaciones wie die Wohnungsdichte, institutionelle Diskriminierung oder die fehlende Freiflächenversorgung, damit sich Ungerechtigkeiten für pobladorxs nicht wiederholen können (Bolaños Enriquez/Quintero 2022: 107).

3. Die Wohnvereinigung LH im Kampf um würdigen Wohnraum und gegen die staatliche Legitimierung kolonialer Kontinuitäten

Die Forderungen der Wohnvereinigung LH nach würdigem Wohnraum im Bezirk Peñalolén und nach der Förderung öffentlicher und privater Investitionen in den Bereichen Wohnungsbau, Städtebau und Soziales sind vor dem Hintergrund der Geschichte der Kämpfe um würdigen Wohnraum von pobladorxs zu verstehen: Die erste dokumentierte Landbesetzung La Legua Nueva in Santiago im Jahr 1947 beeinflusste maßgeblich die Gründung der staatlichen Wohnungsbaugesellschaft CORVI (Corporación de la Vivienda) 1953 mit dem Ziel, den Wohnungsmangel in Chile zu beheben und dabei die Lebensqualität der Menschen zu verbessern (Grupo de Investigación Historia Lo Hermida 2013). Von der Schaffung hochwertiger Wohnverhältnisse profitierten allerdings kaum pobladorxs, sondern vor allem formell beschäftigte Arbeitnehmer*innen, die die Möglichkeit hatten zu sparen (Imilan/Olivera/Beswick 2016: 176).

Pobladorxs veränderten diese Politik, indem sie nach einem Großbrand 1957 staatliche Unterstützung für den Wiederaufbau ihrer Häuser forderten. Unter der Regierung Eduardo Frei (1964-1970) wurde daraufhin das Ministerium für Wohnungsbau und Stadtentwicklung (Ministerio de Vivienda y Urbanismo) gegründet und der staatlichen Wohnungsbaugesellschaft CORVI wurden neue Projekte zugeteilt, die sich auf den staatlichen Kauf von Grundstücken sowie die Unterstützung von Bewohner*innen aus poblaciones bei ihrem Wohnungsbau fokussieren sollten (Grupo de Investigación Historia Lo Hermida 2013). Diese Unterstützungsmaßnahmen wurden ab 1965 unter dem Namen operación sitio geführt, die auch in Lo Hermida ab 1970 zum Bau vieler Wohnprojekte führte, wo pobladorxs zuvor Land besetzt hatten. Im Bezirk Peñalolén wurden bis 1969 im Rahmen dieses Programms mehr als 6.000 neue Baugrundstücke geschaffen (Guzmán et al. 2009: 6). Das Besondere an den operaciones sitio war, dass sich Wohnvereinigungen und soziale Organisationen für Wohnbauprojekte bewerben konnten und so „der sozialen Organisation der pobladorxs eine neue Bedeutung zukam“ (Grupo de Investigación Historia Lo Hermida 2013).

Unterschiedliche Wohnvereinigungen unterstützten die Macht­übernahme von Salvador Allende (1970-1973), der den sozialen Wohnungsbau als Schwerpunkt seiner Politik bezeichnete und das Recht auf Wohnraum und die direkte Zusammenarbeit mit den Menschen propagierte. Das Regierungsprogramm sah unter anderem den starken Ausbau von Sozialwohnungen, lokale Partizipationsinstanzen wie Gesundheitsräte sowie integrative Planungsinstrumente vor (Tapia Gómez 2024: 17). Nach dem Militärputsch 1973 wurden viele Landbesetzungen in Lo Hermida aufgelöst, und die Repression war vor Ort besonders stark zu spüren (Guzmán et al. 2009: 6). Das Programm der Nationalen Stadtentwicklungspolitik im Jahr 1979, durch das der Handel mit Land in Chile dem freien Markt überlassen wurde, verschärfte die bestehenden Segregationsprozesse (Imilan/Olivera/Beswick 2016: 170). Unter dem Slogan „Chile, ein Land der Hausbesitzer“ erhöhte das Militärregime die Eigentumsquote auf fast 70 Prozent. Seitdem werden Sozialwohnungen als Gegenstand des Marktes behandelt und nicht mehr als solches, auf das jede*r einen Rechtsanspruch hat (ebd.: 177).

Die Wohnungsbaupolitik ab 1990 vertiefte das neoliberale Modell der Militärdiktatur und führte zu weiterer Segregation und sozialer Diskriminierung in Lo Hermida: Das Ziel war, so viel Wohnraum wie möglich zu den geringstmöglichen Kosten zu schaffen (Rodríguez/Sugranyes 2004: 54; Imilan/Olivera/Beswick 2016: 177). Sozialwohnungen für viele Familien aus Lo Hermida wurden so in der Peripherie der Metropolregion Santiago auf preiswertem Land und mit prekären Baumaterialien, darunter giftiger Asbest, ohne Anbindung an das öffentliche Verkehrssystem, ohne Gemeinschaftseinrichtungen sowie Bildungs- und Gesundheitseinrichtungen und fernab von ihren sozialen Netzwerken in Peñalolén errichtet. Sowohl von der Wissenschaft als auch von sozialen Bewegungen werden die Bewohner*innen dieser poblaciones als los con techo bezeichnet, also: die mit Dach, um auf diese neue Art von Armut, Ausgrenzung und die damit verknüpfte soziale Stigmatisierung hinzuweisen (ebd.: 177 f.; Rodríguez/Sugranyes 2005).

Im Bezirk Peñalolén arbeitet die Stadtverwaltung seit 2007 an einem Modifizierungsvorschlag des kommunalen Flächennutzungsplans (FNP), der noch aus der Zeit der Militärdiktatur stammt (Fernández Prajoux 2011: 28). Pobladorxs unterschiedlicher poblaciones in Peñalolén schlossen sich zum Rat der sozialen Bewegungen von Peñalolén (Concejo de Movimientos Sociales de Peñalolén, im Folgenden: CMSP) zusammen und reichten einen Vorschlag für einen FNP ein. Mit diesem forderte der CMSP neben Wohnraum mit angemessener Versorgungsinfrastruktur auch die Bewahrung der Siedlungsstruktur der in Teilen selbst gebauten poblaciones und beantragte einen Volksentscheid, um über die aufgestellten Planungsinhalte abstimmen zu können (I; B; C; Fernández Prajoux 2011: 28 f.). Allerdings erkannte die Stadtverwaltung den eingereichten Antrag mit den Unterschriften von mehr als fünf Prozent der Wahlberechtigten des Bezirks nicht an. Die Stadtregierung rief daraufhin selbst einen Volksentscheid aus, bei dem aber nicht mehr konkret über die Planungsinhalte der pobladorxs abgestimmt werden sollte, sondern nur noch mit Ja oder Nein (ebd.: 29). Daraufhin riefen der CMSP sowie pobladorxs dazu auf, beim Volksentscheid mit Nein zu stimmen; der Flächennutzungsplan wurde mit 53,3 Prozent der Stimmen abgelehnt (Mathivet/Pulgar 2011: 211).

Der geschichtliche Abriss der Kämpfe um würdigen Wohnraum von pobladorxs zeigt, dass Selbstorganisation bis heute das zentrale Verfahren von pobladorxs ist. Auch die Wohnvereinigung LH organisiert sich selbst für würdiges Wohnen mit einem starken feministischen und klassenbezogenen Fokus: In Krisenzeiten, beispielsweise während der Militärdiktatur, der sozialen Proteste 2019/2020 oder der COVID-19-Pandemie, waren es vor allem pobladoras, die das Land besetzten und Volksküchen, Nachbarschaftsräte oder -ausschüsse organisierten. Die Wohnvereinigung LH arbeitet in verschiedenen Kommissionen, wobei jede wichtige Entscheidung von der Mitgliedervollversammlung getroffen wird. Das Prinzip der Selbstverwaltung ermöglicht es der Wohnvereinigung LH, ohne feste Teilnahmequoten zu arbeiten. Zudem werden ihre Mitglieder in den Kampf um würdigen Wohnraum eingebunden, wie es eine Gründerin erklärt:

„Die Stärkung der Mitglieder während des gesamten Prozesses, das heißt während der Suche nach Land, der Mobilisierungen, der Verhandlungen mit dem Bezirk oder den zentralen Institutionen der Stadtplanung bis zur Überreichung der Schlüssel, ist von entscheidender Bedeutung.“[10]

(Übers. d. A.)

Eine Lösung der Wohnkrise wäre laut Wohnvereinigung LH eine Umverteilung der ungleichen Landbesitzverhältnisse. Bewohner*innen und pobladorxs betrachten den circa 90 Hektar großen Weinberg Cousiño Macul, der an Lo Hermida angrenzt, als eine mögliche Lösung für den dramatischen Wohnungsmangel des Stadtteils. Seit 1856 befindet sich dieser Weinberg im Besitz der Familie Cousiño, die dieses Land zuvor von aristokratischen Familien aufgrund einer Versteigerung zu einem sehr günstigen Preis erworben hatte (Archivo Notarios Santiago 1869: o. S.). Carlos Cousiño Valdés, einer der Eigentümer des Grundstücks, spekuliert seit den 2000er-Jahren mit einem Immobilienprojekt für einkommensstärkere Personen(-gruppen), das sein Sohn Carlos Cousiño Valdés mit seinem Immobilienunternehmen umsetzen möchte.

Aufgrund einer intransparenten Vereinbarung mit dem damaligen Bürgermeister Carlos Alarcón wurde der Weinberg 2002 als Bauland deklariert, woraufhin die Grundstückspreise stiegen. In den Jahren danach wurden zwei U-Bahn-Stationen in nächster Nähe zum Weinberg gebaut: Los Presidentes und Quilín. Erneut zogen die Grundstückspreise an. Ab 2018 versuchte die Wohnvereinigung LH, in einen Dialog mit den Eigentümer*innen des Weinbergs zu treten. Als dies nicht sogleich gelang, nahmen sie den Kontakt zu politischen Autoritäten wie dem Ministerium für Wohnungsbau und Stadtentwicklung auf, damit diese einen Dialog mit den Eigentümer*innen des Weinbergs initiieren konnten. Nachdem die Eigentümer*innen jedoch zu keinem Dialog bereit waren, entschied sich die Wohnvereinigung LH als letzte Möglichkeit, während der Sozialproteste im November 2019 das Land von Cousiño Macul mit mehr als 100 Familien der Wohnvereinigung zu besetzen (vgl. Abb. 1).

Abb. 1 Landbesetzung der Wohnvereinigung LH während der Sozialproteste im November 2019 (Quelle: Julia Espinoza)
Abb. 1 Landbesetzung der Wohnvereinigung LH während der Sozialproteste im November 2019 (Quelle: Julia Espinoza)

Die Polizei reagierte repressiv auf die Besetzung und vertrieb die Bewohner*innen innerhalb einer Stunde gewaltsam mit Tränen­gasbomben und Gummigeschossen. Dabei griff sie die Familien der Wohnvereinigung LH über das Grundstück Cousiño Macul an, da sich das Polizeirevier Peñalolén unterhalb des Weinbergs auf einem von der Familie Cousiño geschenkten Grundstück befindet. Spezialeinheiten der Polizei setzten die Repression in der población Lo Hermida fort (Villa 2019). Viele dieser Gewalttaten wurden durch Bewohner*innen aufgenommen und in den sozialen Medien gepostet. An diesem Tag sowie an den darauffolgenden Tagen gab es in Lo Hermida fast 500 Verletzte.

Der Umgang der Regierung mit dieser Landbesetzung machte erneut die staatliche Legitimierung kolonialer Kontinuitäten sichtbar und zeigt, wie „Weißsein als eine Art Statuseigentum gesetzlich geschützt wird“ (Roy 2021: o. S.). Obwohl die Polizei mit Gewalt ungerechte Landbesitzverhältnisse verteidigte, arbeitet die Regierung diese Polizeigewalt gegen die Familien der Wohnvereinigung LH nicht auf. Die Stadtverwaltung Peñalolén unterstützte pobladorxs zudem nicht darin, in einen Dialog mit den Eigentümer*innen des Weinbergs zu treten, und nahm die Forderungen der pobladorxs nicht ernst. So wurde der 90 Hektar große Weinberg nicht als Teil einer Lösung für die Wohnkrise betrachtet, sondern stattdessen das geplante Immobilienprojekt von Carlos Cousiño Valdés politisch unterstützt – unter anderem von Peñaloléns Bürgermeister. Auch wurden die Familien der Wohnvereinigung LH direkt vom Weinberg aus attackiert, das heißt von einem Privatgrundstück, auf dem sich die Polizeistation befindet. Die Polizei verteidigt demnach wirtschaftliche Interessen der weißen Familie Cousiño und perpetuiert damit rassifizierte und klassistische Ungerechtigkeiten. Bis heute ist die Familie Cousiño fester Bestandteil der chilenischen Wirtschaftselite (Kaltmeier 2020: 43). Diese Situation nennt Nikhil Pal Singh das Weißsein der Polizei, da diese ungerechte Besitzverhältnisse im Interesse weißer Personen verteidigt (2014: 1091).

Ein Jahr nach diesen Ereignissen lenkte Diego Cousiño erstmals zu einem Dialog mit der Wohnvereinigung LH ein. In Kooperation mit der Stadtverwaltung von Peñalolén kündigte er ein sozial-integratives Projekt mit insgesamt 1.000 Häusern und Wohnungen an. Dieses DS19 Los Encinos genannte Projekt, eine öffentlich-private Partnerschaft, betrachtet Diego Cousiño als Lösung für den Konflikt mit den Bewohner*innen von Lo Hermida, da es sich an sozial vulnerable Familien und an Familien der Mittelschicht richtet. Programme für soziale und territoriale Integration wie die DS19 werden in der aktuellen Nationalen Stadtentwicklungspolitik (Política Nacional de Desarrollo Urbano – PNDU) als notwendig für urbane soziale Integration und Nachhaltigkeit betrachtet, wodurch auf nationaler Ebene eine Politik der Subventionierung und Verschuldung bekräftigt wird (Hidalgo Dattwyler et al. 2022: 13; PNDU 2014). Doch laut der Wohnvereinigung LH wird das Projekt DS19 Los Encinos nicht zur Verbesserung der Wohnungskrise in Lo Hermida beitragen, da das Projekt nur Quoten für den Wohnungsbau für sehr vulnerable Privatpersonen vorsieht, nicht aber für kollektive Wohnvereinigungen. Eine Sprecherin der Wohnvereinigung LH erklärt: „Der Nachweis der Vulnerabilität wird in chilenischen Institutionen unheimlich verkompliziert, weshalb nur sehr wenige Personen(-gruppen) Zugang zu Sozialleistungen erhalten.“[11]

Nach Meinung der Stadtforscher Rodrigo Hidalgo Dattwyler et al. führen Subventionsprogramme für soziale und territoriale Integration jedoch nicht zu integrierten Städten, sondern bergen vielmehr die Gefahr, eine Expansion privater Immobilien- und Baufirmen voranzutreiben (2022: 19 f.). Diese haben in Santiago einen großen Einfluss auf die politische Zielsetzung (MN; OP; Link/Valenzuela 2016: 267; Casgrain 2014: 61, 71; López Morales/Gasic Klett/Meza Corvalán 2014: 3). Im Rahmen von Subventionsprogrammen werden Familien zudem fast immer zur Aufnahme von Krediten gezwungen, wodurch aufgrund der Verschuldung häufig Ängste, Stress und Depressionen entstehen (B; K).

Das Beispiel des Weinbergs zeigt, warum aus Sicht von pobladorxs in Lo Hermida staatliche Planungsprozesse nicht zu einer Umverteilung für poblaciones führen werden. Stattdessen betrachten sie die gleichberechtigte Koexistenz selbstorganisierter Institutionen für würdige Wohnverhältnisse als besonders relevant (E; C; A). Silvia Rivera Cusicanqui schlägt als Rahmen für eine gleichberechtigte, radikale Koexistenz die Metapher „Ch’ixi“ vor (2010; 2018). Das aymarische Wort Ch’ixi beschreibt die „Koexistenz vieler kultureller Unterschiede, die nicht verschmelzen, sondern entweder im Widerspruch miteinander stehen oder sich komplementieren“ (ebd. 2010: 92). Doch es geht der Wohnvereinigung LH nicht nur um die Integration oder das Reformieren diskriminierender Strukturen in Institutionen oder Verfahren, sondern auch um die gleichberechtigte Anerkennung ihrer Wohnvereinigung und ihrer Planungsinstrumente sowie ihres Wissens über die población Lo Hermida.

Eines ihrer zentralen Planungsinstrumente ist der Plan Habitar Lo Hermida (im Folgenden: Plan Habitar), der das Ziel verfolgt, den Wohnungsnotstand in Lo Hermida nachzuzeichnen und Möglichkeiten aufzuzeigen, wie diese und vor allem bis wann diese durch öffentliche und private Investitionen sowie durch die Selbstverwaltung und die Beschaffung von Ressourcen behoben werden können. Anfang 2021 organisierte die Wohnvereinigung LH hierzu einen runden Tisch mit Wohnungskomitees, Nachbarschaftstreffs (Junta de Vecinos) und den Organisator*innen der Volksküchen der población Lo Hermida. Der dort erarbeitete Plan Habitar umfasst mehrdimensionale Maßnahmen, die auf städtischer und sozialer Ebene miteinander verknüpft sind. Im Anschluss wurde dieser Plan unter anderem Giorgio Jackson, dem damaligen Minister für soziale Entwicklung und Familie, vorgestellt.

Abb. 2 Wohnungsdichte in der población Lo Hermida  (Quelle: Agrupación Luchadores y Luchadoras de Lo Hermida 2022: 7)
Abb. 2 Wohnungsdichte in der población Lo Hermida (Quelle: Agrupación Luchadores y Luchadoras de Lo Hermida 2022: 7)

Im Plan Habitar wird dargestellt, dass Lo Hermida eine durchschnittliche Dichte von 189 Einwohner*innen pro Hektar aufweist (Agrupación Luchadores y Luchadoras de Lo Hermida 2022: 7). Diese Dichte variiert entsprechend der Wohnungstypen, die aufgrund unterschiedlicher Wohnungsbaupolitiken entstanden: In den Sektoren der operaciones sitio, die in den 1970er-Jahren infolge von Landbesetzungen gebaut wurden, besteht aktuell eine Dichte von 110 bis 250 Einwohner*innen pro Hektar, in den zuletzt gebauten Sozialwohnungen hingegen eine maximale Dichte zwischen 400 und 600 Einwohner*innen pro Hektar (ebd.; vgl. Abb. 2). Der Plan Habitar diente als Analyserahmen für die Ableitung integral-transformativer Reparationsforderungen der Wohnvereinigung LH, die im Folgenden dargestellt werden.

4. Reparationsforderungen der Wohnvereinigung Luchadores de Lo Hermida

Wie der Beitrag bisher zeigte, förderten und fördern die Planungs­instrumente und -prozesse der Stadtentwicklung in Peñalolén bis heute individuelle und systemische Wachstumsinteressen, besonders für eine weiße Wirtschaftselite. Gleichzeitig trugen sie zur Schaffung und (kolonialen) Aufrechterhaltung von rassifizierten, vergeschlechtlichten und klassistischen Ungerechtigkeiten bei – wie Segregation in poblaciones, ungleichen Landbesitzverhältnissen und deren staatlicher Legitimierung sowie der Nichtanerkennung von pobladorxs in der Wissensproduktion. Um würdigere Wohnverhältnisse in der población Lo Hermida herzustellen, plädieren wir für integral-transformative Reparationen.

Im Folgenden werden wir unsere Interpretation der Perspektiven der Wohnvereinigung LH auf Reparationsforderungen für würdigere Wohnverhältnisse systematisiert darstellen. Dafür wenden wir das Konzept der integral-transformativen Reparationen an, das wir im zweiten Kapitel bereits ausgearbeitet haben. Dieses Konzept sowie die daraus abgeleiteten Maßnahmen (vgl. Tab. 1) beziehen sich auf die Ergebnisse in Chile, die im Rahmen der Verfassungsgebenden Versammlung 2021 ausgearbeitet wurden, sowie auf die Arbeiten von Tania Bolaños Enriquez und Diana Quintero.

Maßnahmen

Integral-transformative Reparationsprozesse

Wiederherstellung

Veränderung punktueller, gewaltvoller Zustände

Garantien für die Nichtwiederholung

Umsetzung struktureller, sozialer Maßnahmen

Urbane Rehabilitierung

Finanzierung von Entschädigungsmaßnahmen

Symbolische Wiedergutmachung

Anerkennung struktureller Ungerechtigkeiten

Tab. 1 Maßnahmen zur Systematisierung integral-transformativer Reparationsprozesse (Quelle: eigene Darstellung)

Nachfolgend werden die Reparationsforderungen der Wohnvereinigung LH entlang der vier Maßnahmen Wiederherstellung, Garantien für die Nichtwiederholung, urbane Rehabilitierung und symbolische Wiedergutmachung dargestellt.

Die Wohnvereinigung fordert in Bezug auf die Wiederherstellung eine gerechtere Verteilung von Land in Peñalolén, auch durch Enteignungen. Denn staatliche Enteignungen sind notwendig, um die Landbesitzverhält­nisse zu verändern und so gerechtere Stadtverhältnisse für zukünftige Generationen zu garantieren und koloniale Kontinuitäten zu beenden. Des Weiteren betrachtet die Wohnvereinigung LH Planungsinstrumente für die soziale Bodennutzung als notwendig, bei denen ungenutzte öffentliche oder militärische Flächen für den Wohnungsbau zur Verfügung gestellt werden können. Im Fall von Privatgrundstücken ist eine staatliche Regulierung notwendig, damit der Bezirk Grundstücke für den Bau von Sozialwohnungen bezahlen kann und Immobilienspekulationen nicht weiter fortgeführt werden können. Die Wohnvereinigung LH fordert zudem eine Rückabwicklung des Gesetzes Usurpaciones, das 2023 unter dem aktuell amtierenden Präsidenten Gabriel Boric verabschiedet wurde und unter anderem Landbesetzungen kriminalisiert. Zwar hat die jetzige Regierung versucht, einige Bereiche des Gesetzes einzuschränken – wie das Recht zum Selbstschutz auf privatem Eigentum –, aber die Gefahr, aufgrund von Landbesetzungen ins Gefängnis zu kommen, bleibt weiterhin bestehen. Nach Ansicht der Wohnvereinigung LH verschärft dieses Gesetz Usurpaciones die Wohnraumkrise zusätzlich.

Aktuell versucht die Wohnvereinigung LH, den Staat dazu zu bewegen, die Landnutzung und den Bodenpreis in Peñalolén so zu regulieren, dass Sozialwohnungen darauf gebaut werden können. Notwendig hierfür sind Garantien für die Nichtwiederholung, die transformativ auf die historisch entstandene soziale Segregation reagieren und das Ziel verfolgen, Reichtum umzuverteilen. Diese Maßnahmen müssen laut der Wohnvereinigung LH mehrdimensional sein: Neben einer neuen Verfassung, die das Recht auf Care-Arbeit, würdiges Wohnen, würdige Gesundheit und würdige Bildung garantiert, ist die sozialökologische Funktion des Grundbesitzes verfassungsrechtlich anzuerkennen. Zudem wird ein universelles Recht auf Wohnen gefordert, das die aktuelle bürokratische Subventionspolitik beendet. Denn diese führt dazu, dass die Mehrheit der Personen(-gruppen) in poblaciones keinen Zugang zu Sozialleistungen hat, weil sie für den Staat nicht vulnerabel genug sind und deshalb keine Hypothekendarlehen und Wohnbeihilfen beantragen können. Stattdessen wird die gleichberechtigte Anerkennung selbstverwaltender Praktiken von Wohnvereinigungen gefordert, um mithilfe staatlicher Förderung beispielsweise Bildungs-, Stadtplanungs- und Gesundheitseinrichtungen mit solidarischen Netzwerkstrukturen aufbauen und verstetigen zu können. Als notwendig hierfür wird der gleichberechtigte Zugang zur Wissensproduktion anhand eines territorialen Ansatzes gesehen, der die unterschiedlichen Erfahrungen von pobladorxs anerkennt. Die Wohnvereinigung LH vertritt eine solidarische Auffassung von Privateigentum, die historisch bedingte Ungerechtigkeiten berücksichtigt und besonders diejenigen bei der Vergabe von Land priorisiert, die historisch und bis heute systemisch marginalisiert wurden und werden. Als zentral für die Umsetzung dieser Garantien für die Nichtwiederholung wird ein Zugang zu einer geschlechtergerechten und antiklassistischen Justiz erachtet.

Die Forderungen nach einer urbanen Rehabilitierung umfassen unterschiedliche Bereiche, allen voran die Förderung der Entwicklung und Verwaltung neuer Wohnungsbauprojekte, die über den „Solidaritätsfonds für Wohnungswahl DS49 – Bau auf neuen Grundstücken“ errichtet werden können. Dieser Solidaritätsfond soll es in Wohnvereinigungen organisierten, einkommensschwachen Familien ermöglichen, Wohneigentum zu erwerben. Bis 2030 verlangt die Wohnvereinigung LH die Bereitstellung von 1.328 neuen Wohnungen. Eine weitere Forderung stellt die Sanierung verfallener Wohnkomplexe durch städtebauliche, wohnungswirtschaftliche und soziale Maßnahmen dar. Der Schwerpunkt liegt auf den Wohnblocks Los Presidentes, Claudio Arrau/Los Encinos und Aquelarre II in Lo Hermida, die mit asbesthaltigen Baustoffen gebaut wurden. Zudem fordert die Wohnvereinigung LH eine Verbesserung der Mobilitäts- und Erreichbarkeitsbedingungen innerhalb Lo Hermidas, eine Verbesserung des Zustands der öffentlichen Räume, Parks und Sportplätze sowie eine Unterstützung der Bewohner*innen in dem Prozess, sich diese Räume wieder anzueignen. Zwar gibt es ein Angebot verschiedener öffentlicher Räume in der población, jedoch variiert deren Zustand sehr stark beziehungsweise ist der Zugang zu diesen Räumen ungleichmäßig verteilt: Besonders im südlichen Teil Lo Hermidas, wo eine höhere Bevölkerungsdichte herrscht, ist die Qualität der Plätze und die Erreichbarkeit schlechter als in der restlichen población. Generell sind der Zustand öffentlicher Räume sowie deren Zugang im Vergleich zum Gesamtbezirk Peñalolén sehr viel schlechter. Im Bereich Peñalolén Nuevo beispielsweise, in dem vor allem einkommensstarke Personen leben, ist sowohl die Quantität als auch die Qualität der öffentlichen Räume (Infrastruktur auf Spielplätzen, Häufigkeit von Reparaturen, Mülleimer, Sitzmöglichkeiten) höher als in Lo Hermida. Die Wohnvereinigung LH fordert deshalb eine gleichberechtigte Qualität öffentlicher Räume, die im Bezirk quantitativ gleichmäßig verteilt sind. Dabei achtet sie darauf, Freiräume für verschiedene Menschen innerhalb der población zu fördern und territoriale Epistemologien wie öffentlich neu zu denken[12]. Grund hierfür ist die Art und Weise, wie öffentliche Räume in Lo Hermida genutzt werden, die nicht mit jener in anderen Stadtteilen des Bezirks übereinstimmt: Auf den Plätzen von Lo Hermida werden kulturelle Aktivitäten organisiert und es gibt alternative wirtschaftliche Praktiken, die oft vom Bezirk Peñalolén selbst kriminalisiert werden. Trotz der Zusammenarbeit mit stadtentwicklungspolitischen Institutionen sowie der vielen selbstorganisierten Aktivitäten im Stadtteil erfährt die Wohnvereinigung LH institutionelle Diskriminierung und fordert diesbezüglich eine gleichberechtigte politische Teilhabe an stadtentwicklungspolitischen Entscheidungsprozessen, die ihre Wohnverhältnisse tangieren. Eine weitere Forderung ist die Anerkennung und Prävention verschiedener Gewaltformen gegen Frauen* und die dafür notwendige Stärkung geschlechtersensibler öffentlicher Dienstleistungen, damit Frauen* institutionell unterstützt werden können.

Hinsichtlich der symbolischen Wiedergutmachung fordert die Wohnvereinigung LH, die Vergangenheit der strukturellen Gewalt anzuerkennen und sowohl durch eine neue Verfassung als auch in einer entsprechenden Gesetzgebung koloniale Kontinuitäten zu beenden. Notwendig ist ihnen zufolge eine öffentliche Entschuldigung sowie die Anerkennung, dass durch koloniale und imperiale Interventionen Unrecht begangen wurde. Bis heute wird als Grund für ungleiche Stadtverhältnisse vor allem individuelles Verhalten anstatt struktureller Ungerechtigkeiten infolge kolonialer Herrschaftsmuster genannt. Die Vorstellung, Personen(-gruppen) seien selbst verantwortlich für die Stadtverhältnisse, in denen sie leben, und besonders Frauen* aus poblaciones seien arm, faul, ungebildet und desinteressiert, hält sich hartnäckig in den Medien und politischen Entscheidungsräumen Chiles – und das trotz verschiedener sozial- und umweltepidemiologischer Studien, die zeigen, dass unter anderem class, gender und race einen direkten Einfluss auf ungesunde Lebens- und Arbeitsverhältnisse der Bevölkerung haben (Köckler 2020: 26; Corburn 2017: 6; Kramer et al. 2017: 612; Nardone et al. 2021: 1; Nardone et al. 2020: 27; Heynen 2015: 840 f.; Maantay 2001: 1038). Darüber hinaus fordert die Wohnvereinigung LH Maßnahmen der symbolischen Wiedergutmachung, die ein individuelles und kollektives Gedenken ermöglichen, etwa Denkmäler oder die Benennung von Straßen nach pobladorxs.

5. Auf dem Weg zu würdigeren Wohnverhältnissen: drei Handlungsfelder

Unser Beitrag zeigt am Beispiel der Wohnvereinigung LH der población Lo Hermida, wie sich pobladorxs gegen vergeschlechtlichte, klassistische und rassistisch konnotierte Besitzverhältnisse sowie gegen neoliberale Stadtverhältnisse wehren und sich für einen würdigen Wohnraum im Bezirk Peñalolén organisieren. Die Wohnvereinigung LH nimmt beispielsweise Einfluss auf politische Entscheidungsprozesse, wie anhand des Weinbergs Cousiño oder des Planungsinstruments Plan Habitar Lo Hermida dargestellt wurde (beide Kap. 3), und formuliert integral-transformative Reparationsforderungen an den chilenischen Staat. Diese Reparationsforderungen (vgl. ausführliche Darstellung in Kap. 4) hat die Wohnvereinigung LH auf der Grundlage ihres politischen Projekts – dem Kampf um würdigen Wohnraum in Peñalolén – entwickelt. Ihre Forderungen bezeichnen wir als transformativ, weil sie auf strukturelle Veränderungen in der población Lo Hermida und aus einer intersektionalen Perspektive heraus integral auf soziale Gerechtigkeit abzielen. Die integral-transformativen Reparationsforderungen beinhalten beispielsweise strukturelle Garantien für die Nichtwiederholung und die Anerkennung ungleicher Landbesitzverhältnisse in Peñalolén als koloniales Unrecht.

Damit selbstorganisierte Forderungen bei der Entscheidungsfindung im Bereich der Stadtplanung und -entwicklung sowie in der Wissenschaft stärker wahrgenommen werden, betrachten wir die folgenden drei Handlungsfelder als notwendig.

5.1. Gleichberechtigte Anerkennung selbstorganisierter Institutionen und Planungsinstrumente

Dieser Beitrag zeigt, wie aktuelle Planungsentscheidungen in ungerechten Stadtverhältnissen getroffen werden. Für die stadtentwicklungspolitische Planung ist es jedoch wichtig, die Entstehung von Ungerechtigkeiten zu sehen und anzuerkennen, um prekäre Wohnverhältnisse nicht zu (re-)produzieren, sondern zu verändern. Die Wohnvereinigung LH verwaltet sich selbst und stellt eigene Planungsinstrumente auf, wie beispielsweise den Plan Habitar, dessen gesamter Entstehungsprozess und dessen inhaltliche Schwerpunkte auf sie zurückgehen. Bewohner*innen von Lo Hermida waren während des gesamten Entwicklungsprozesses eingebunden und setzten Prioritäten bei den Initiativen, was dem Instrument zusätzlich Legitimität und Relevanz verleiht. Bei der Erstellung des Plans waren zudem Regierungseinrichtungen auf lokaler und nationaler Ebene sowie private Einrichtungen und Organisationen der Zivilgesellschaft beteiligt. Doch der Wohnvereinigung LH geht es nicht nur um die Integration des Plan Habitar in die neoliberale Stadtentwicklungspolitik, da sie es als unwahrscheinlich einstuft, dass allein dessen Integration würdige Wohnverhältnisse für die población Lo Hermida sicherstellen kann. Vielmehr ist es notwendig, den Plan als gleichberechtigt anzuerkennen und dessen zentrale Forderungen umzusetzen: die Bereitstellung von Land in Peñalolén für neuen Wohnraum sowie die Verbesserung der Bewohnbarkeit bestehender Wohnungen in Lo Hermida.

Hinsichtlich möglicher institutioneller Veränderungen in der Politik oder von Planungsinstrumenten ist die abolitionistische Bewegung interessant (UCLA 2018). Denn die Abolitionismus-Debatte zeigt die Notwendigkeit, Institutionen und Verfahren bestehender Planungsprozesse, die Ungerechtigkeiten (re-)produzieren, infrage zu stellen und diese dabei nicht nur reformieren zu wollen, sondern gemeinsam mit denjenigen neu aufzubauen, die besonders unter den bestehenden Institutionen leiden. Die Stadtforscherin Ananya Roy betont deshalb: „[I]nformality is an important epistemology for planning“ (Roy 2005: 156). Laut der Umweltpsychologin Deshonay Dozier sollten Planer*innen die bestehende professionelle Planung sowohl im Lehrplan ihrer Ausbildung als auch in der Planungspraxis historisch reflektieren und repolitisieren: „The larger problem is the field of professional planning which is complacent in the reproduction of institutional violence.“ (Dozier 2018: o. S.) Und die UCLA Abolitionist Planning Group empfiehlt Planer*innen beispielsweise, mit sozialen Organisationen zusammenzuarbeiten, um historisch marginalisierte Identitäten zu unterstützen und alternative Strukturen aufzubauen (UCLA 2018: 7).

5.2. Pluralere Wissensproduktion

Damit selbstorganisierte Institutionen wie die Wohnvereinigung LH und deren Planungsinstrumente gleichberechtigt anerkannt werden können, bedarf es des institutionellen Respektierens vielfältiger Wissensproduktion – wissenschaftlichen und nicht wissenschaftlichen Wissens. Die Chicana-Feministin Gloria Anzaldúa fordert mit dem Konzept des Grenzdenkens dazu auf, sich den unsichtbar gemachten Perspektiven zuzuwenden (Anzaldúa 1987). Mit Grenzdenken ist sowohl die physische Überquerung territorialer Grenzziehungen gemeint als auch die Grenze als Metapher gegen Dichotomien und homogene Subjektpositionen (Téllez 2005: 54 f.). Die Unvollständigkeit des eigenen Wissens kann durch neue Perspektiven erkannt werden, wobei unterschiedliche Perspektiven auch dabei helfen können, soziale Realitäten neu zu denken, über sie hinauszugehen und, wenn nötig, Wissen zu verlernen und durch andere Perspektiven neu zu erlernen (ebd.). Erforderlich ist zudem die Reflexion der Frage, welches Wissen nach wie vor aufgrund von Machtasymmetrien sichtbar und/oder unsichtbar gemacht wurde und wird (Dübgen 2014: 272; Brunner 2020). Denn „urbane Erfahrungen beschreiben in ihrer alltäglichen Vielfältigkeit eine ganze Welt von Städten und können allein mit westlichen Vorstellungen von Urbanität kaum gefasst, geschweige denn erklärt werden“ (Streule 2017: 79 f.). Eine Möglichkeit ist es, wie auch in diesem Beitrag in Teilen praktiziert, die gelebte Stadt selbst sprechen zu lassen. Die Sozialwissenschaftlerin Paula Vera fasst die gelebte Stadt wie folgt zusammen:

„Die gelebte oder praktizierte Stadt taucht in das ein, was wir als das Imaginäre der Stadt bezeichnen, weil sie die subjektive Perspektive der Bewohner*innen zurückgewinnt, um über die Lebensweisen der Stadt, die Bedeutungen, die bestimmte Orte wie öffentliche Räume, Denkmäler oder Stadtviertel erhalten, Rechenschaft abzulegen. Es ist der Blick von unten, der uns erlaubt, Prozesse der Nutzung und Aneignung der geübten Stadt zu betrachten.“[13]

(Vera 2019: 18; Übers. d. A.)

Die gelebte Stadt ist insofern interessant, weil sie die alltägliche Vielfalt von Stadtverhältnissen und darin bestehende Widersprüche sichtbarer machen kann (Castillo Morga 2017: 106 f.). Eine pluralere Wissensproduktion kann vor allem durch die institutionelle Anerkennung von Lebenserfahrungen sowie durch die vertikale Dekonstruktion von Machtverhältnissen ermöglicht werden. Zu Letzterem zählen etwa die Umverteilung kolonialer Besitzverhältnisse oder Zugangsmöglichkeiten für selbstorganisierte Wohnvereinigungen zu stadtplanerischen Entscheidungsprozessen. Die horizontale Dekonstruktion von Machtverhältnissen drückt sich beispielsweise in einer gerechten Verteilung der Care-Arbeit im häuslichen Bereich aus und trägt damit ebenfalls zu einer pluraleren Wissensproduktion bei (Rivera Cusicanqui 2018: 153).

5.3. Umverteilung, Anerkennung und Repräsentation zusammendenken

Hinsichtlich der Dekonstruktion vertikaler und horizontaler Macht­verhältnisse beziehen wir uns auf die Philosophin und Feministin Nancy Fraser, die postuliert, Umverteilung, Anerkennung und Repräsentation zusammenzudenken (Fraser 2008, 2015). In unserem Beitrag haben wir am Beispiel der Reparationsforderungen der Wohnvereinigung LH gezeigt, wie die Kämpfe um eine Umverteilung ungerechter Landbesitzverhältnisse aussehen können. Damit „institutionelle Entwicklungsbarrieren abgebaut und grundlegende Wertvorstellungen zu Gesellschafts- und Naturverhältnissen verändert werden“ können (Bauriedl 2021: 55), ist es im Sinne einer pluraleren Wissensproduktion notwendig, dass Institutionen strukturelle, klassistische, vergeschlechtliche und rassistisch konnotierte Ungerechtigkeiten anerkennen, die zu historisch bedingten räumlichen Unterschieden führ(t)en. Ohne diese Anerkennung sieht die Stadtplanerin Yasminah Beebeejaun die Gefahr, dass keine Repräsentation derjenigen garantiert wird, die bisher am meisten unter stadtplanerischen Eingriffen gelitten haben:

„Encouraging greater participation by marginalized groups without consideration of power relations between and within groups does not safeguard values of equality, nor should it be presumed to do so. Participation does not offer a panacea for embedded racial and ethnic inequalities. These inequalities are interwoven into the fabric of our societies.“

(Beebeejaun 2006: 15)

Die Wohnvereinigung LH hat genaue Vorstellungen davon, wie und wo Sozialwohnungen gebaut werden sollten, um würdigen Wohnverhältnissen näher zu kommen. Dieses Wissen ist anzuerkennen, weshalb die Wohnvereinigung LH Teil der Planungsprozesse für sie betreffenden geplanten Wohnraum werden sollte. Aktuell ist sie allerdings mit ungleichen institutionellen Zugangsmöglichkeiten zu Verfahrensprozessen konfrontiert. Genau diese ungleichen institutionellen Zugangsmöglichkeiten, die die politische Partizipation von Personen(-gruppen) besonders entlang von class, gender und race erschweren können, fokussiert Fraser und fordert, dass die politischen Mitbestimmungschancen vollständig vorhanden sein müssen, damit Personen(-gruppen) gleichberechtigt am gesellschaftlichen Leben teilhaben können (Fraser 2008: 8; Fraser 2015: 59). Um gleichberechtigte politische Mitbestimmungschancen für multiple Identitäten zu ermöglichen, müssen Reparationsforderungen strukturell marginalisierter Personen(-gruppen) in Planungsprozessen berücksichtigt werden. Zudem sind unsichtbar gehaltene Verfahren und Institutionen marginalisierter Gruppen anzuerkennen und zu entkriminalisieren. Für die Wohnvereinigung LH bedeutet dies konkret: eine ebenbürtige, geschlechtersensible sowie antiklassistische Zusammenarbeit zwischen ihnen und staatlichen Institutionen.