sub\urban. zeitschrift für kritische stadtforschung 2024, 12(1), 213-221

doi.org/10.36900/suburban.v12i1.966

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Räume für kollektivere und freiere Beziehungsweisen

Rezension zu Kitchen Politics (Hg.) (2023): Die Neuordnung der Küchen. Materialistisch-feministische Entwürfe eines besseren Zusammenlebens. Münster: edition assemblage.

Eva Kuschinski

Abb. 1 Die Neuordnung der Küchen. Materialistisch-feministische Entwürfe eines besseren Zusammenlebens. (Quelle: edition assemblage)
Abb. 1 Die Neuordnung der Küchen. Materialistisch-feministische Entwürfe eines besseren Zusammenlebens. (Quelle: edition assemblage)

Konkrete Entwürfe eines kollektiven und freien Lebens (Raab 2023: 117) stehen im Mittelpunkt des fünften Bands der Reihe Kitchen Politics. Das gleichnamige Herausgeber*innenkollektiv[1] publiziert hier als Teil der herrschaftskritischen Linken bewusst jenseits der Sachzwänge des akademischen Betriebs (Kitchen Politics 2023a: 5). Seit 2012 ist es das große Verdienst des Kollektivs, auf undogmatische Weise materialistische Feminismen in den Diskurs (zurück-)zubringen. Der hier besprochene aktuelle Band ist geprägt von einem zweifachen Materialismusverständnis: einmal von Materialismus im Anschluss an Marx und einmal vom Bezug auf die Materialität konkreter Entwürfe aus dem feministischen und sozialistischen Städtebau, in Form von Kommune- oder Einküchenhäusern, Kibbuzim oder Wohnprojekten (Kitchen Politics 2023b: 13). Der Band erscheint zudem im Gedenken an Felicita Reuschling, die 2019 verstarb und prägender Teil des Kollektivs war. Ihre kontinuierliche Arbeit zu (Un-)Möglichkeiten der Neuordnung der Küchen wird hier fortgeführt. Ihre wichtigen Impulse für materialistisch-feministische Analysen des Wohnens haben auch meine Beschäftigung mit dem Thema stark beeinflusst.

Das Buch gliedert sich nach einer ausführlichen Einleitung in sieben Kapitel. Das Kernstück bildet Alexandra Kollontais „Familie und der kommunistische Staat“ aus dem Jahr 1918. Mit der (Neu-)Übersetzung des Texts ins Deutsche realisieren die Herausgeber*innen einen Vorschlag Reuschlings. Eine Gruppendiskussion sowie zwei 2010 und 2014 in der Zeitschrift Phase 2 erschienene Beiträge von Reuschling ordnen Kollontais Beitrag ein. Ein Essay zu Lebensformenpolitiken von Michael Raab führt dessen Diskussionen mit Felicita Reuschling fort. Mit Veronica Dumas Beitrag zur Verbindung feministischer Bewegungen mit dem Roten Wien sowie einem ursprünglich 2017 in dieser Zeitschrift veröffentlichten Kommentar Reuschlings zu Dolores Haydens Entwurf für eine nicht-sexistische Stadt (Reuschling 2017) beschließen stadtpolitische Themen das Buch.

Der Band versammelt damit eine Vielzahl an Anliegen: Zuerst das Gedenken an Felicita Reuschling sowie eine Würdigung und Weiterführung ihrer Arbeit. Dann die kritische Einordnung von Kollontais Aufsatz, der stellvertretend für den realen Möglichkeitsraum und das Scheitern der Oktoberrevolution steht. Darüber hinaus tritt das Buch das Erbe linker, feministischer Entwürfe alternativer Lebensweisen kritisch an und hebt dabei einen reichen Schatz historischer Diskussionen und Praxen und macht sie so für heutige Kämpfe um Wohnraum und die Stadt zugänglich. Im Folgenden stelle ich die Inhalte der einzelnen Kapitel vor und verknüpfe sie anschließend mit einigen Aspekten materialistisch-feministischer Stadtforschung.

Alexandra Kollontai, deren Person und Wirken in mehreren Beiträgen kontextualisiert wird (Kitchen Politics 2023b; Reuschling 2023a [2010], 2023b [2014]; Raab 2023), wendet sich in ihrem Aufsatz an die Bevölkerung und insbesondere die Frauen der jungen Sowjetunion. Sie will der Verunsicherung in der gesellschaftlichen Umbruchsituation nach der Oktoberrevolution entgegenwirken und erläutert, warum das notwendige Absterben der Familie zur Befreiung der Frauen in der neuen kommunistischen Gesellschaft beiträgt (Kollontai 2023 [1918]: 49). Der Familie, die als wirtschaftliche Zwangseinheit im Kapitalismus mit Mehrfachbelastung, Gewalt und Unterdrückung verbunden ist, setzt sie die Zukunftsvision einer freien, gleichberechtigten Liebe zwischen Arbeitenden entgegen. Kollontai legt konkret dar, wie ein Ende des Privathaushalts aussehen kann – mit der Kollektivierung und Rationalisierung reproduktiver Arbeit, die sie als belastend, unproduktiv und überflüssig bezeichnet (ebd.: 54 ff.). Der neue Arbeiterstaat soll diese Aufgaben – vom Putzen bis zur Kindererziehung – von nun an übernehmen. Frauen sollten so – befreit von ihrer Abhängigkeit vom Mann – ihre gesellschaftliche Rolle als produktive Arbeiterinnen einnehmen (ebd.: 62 f.).

Da Kolontais Entwurf sich tatsächlich an Erfahrungen im real existierenden Sozialismus messen lassen kann (Inopina et al. 2023: 83), entschieden sich die Herausgeber*innen für eine kritische Einordnung in Form einer Gruppendiskussion mit Feminist*innen unterschiedlicher (post-)sozialistischer Hintergründe. Zwischen Desillusionierung und Festhalten am utopischen Gehalt von Kollontais Propagandaschrift verbinden die Diskutierenden diese mit eigenen und familiären Erfahrungen, aber auch mit der Vielfalt vergeschlechtlichter Lebensweisen in (post-)sozialistischen Gesellschaften (ebd.: 60 ff.) und befragen den Entwurf nach queeren Befreiungspotenzialen (ebd.: 77 ff.).

Die arbeitswerttheoretischen Konzeptualisierungen, die Kollontai impliziert, stellt Reuschling (2023a [2010]) in den Mittelpunkt ihrer kritischen Auseinandersetzung mit dem Text: Die Abwertung reproduktiver Arbeit sowie das Verkennen ihrer gesellschaftlichen und ökonomischen Notwendigkeit, so das Argument, fallen hinter einen kritischen, relationalen Arbeitsbegriff zurück (ebd.: 96). Dies begünstigt, wie Reuschling zeigt, in der realsozialistischen Geschichte und Praxis nicht nur einen zu kritisierenden arbeitsmoralischen Imperativ (ebd.: 97), sondern spätestens mit dem Stalinismus auch die Reprivatisierung der Familie. In einem weiteren Text kontrastiert Reuschling (2023b [2014]) die sowjetischen Entwürfe zudem mit der sozialistischen Kibbuzbewegung in Israel. Sie fragt nach ökonomischen, pädagogischen und psychologischen Transformationsbedingungen von Familie, die sie kritisch als imaginierten Rückzugsort vor der Gesellschaft konzipiert (ebd.: 105). Im Hinblick auf die gegenwärtige Schwierigkeit, alternative Familienmodelle zu leben, schlägt Reuschling vor, das Scheitern solcher Versuche nicht zu individualisieren, sondern vielmehr nach Annäherungen zwischen verschiedenen Lebensformen zu suchen, die über das Bestehende hinausweisen und damit auch über die Zweckrationalität, die aktuell dominanten Familienformen innewohnt (ebd.: 115).

Michael Raab (2023) knüpft hier an mit seinem Beitrag zu Konsequenzen, die sich aus einer Analyse von Lebensformpolitiken der westdeutschen Linken seit 1960 ergeben: Kritisch analysiert er das mechanistische Paradigma sexueller Befreiung ebenso wie Fehlschlüsse über die individuelle Umsetzbarkeit von Theorie, die oft zu deren autoritärer Verkehrung und neoliberaler Einhegung führten und so einer Kapitulation vor den Verhältnissen oder einem Rückzug ins Private den Weg ebneten (ebd.: 121 ff.). Dem setzt Raab den Vorschlag einer queeren Überwindung vergeschlechtlichter Arbeitsteilung und Begehrensregime entgegen. Zentral ist seine Erkenntnis, dass gesellschaftliche Veränderung, um überhaupt denkbar zu sein, in Erfahrung gründen muss. Der strategische Zugang zu Ressourcen für die Schaffung von Möglichkeitsräumen ist dabei für die Vermittlung von Theorie und Praxis bedeutend (ebd.: 129 ff.).

Einen solchen Möglichkeitsraum bot von 1919 bis 1934 das kommunale sozialistische Projekt des Roten Wiens, wie Veronica Duma (2023) in ihrem Beitrag veranschaulicht. Die kommunale fiskalische Umverteilung von Ressourcen ermöglichte eine städtische Daseinsfürsorge, deren Gestaltung stark von der Arbeiter*innen- und Frauenbewegung geprägt war, aufgrund derer sich insbesondere die Wohnungsfrage feministisch angeeignet wurde (ebd.: 144 ff.). Während des Austrofaschismus waren die politischen Netzwerke des Roten Wiens bis zu dessen Zerstörung und der Ermordung seiner Akteur*innen ein wichtiger Widerstandsort. Vor dem Hintergrund aktueller Austeritätspolitiken und dem Erstarken faschistischer und antifeministischer Kräfte plädiert Duma für die Erinnerung an solche Orte und den Kampf für sie (ebd.: 165 f.).

Im letzten Beitrag des Buchs aktualisiert Reuschling (2023c [2017]) Dolores Haydens (1981) Vorschläge für eine nicht-sexistische Stadt Berlin. Mit Blick auf vergangene Berliner Stadtentwicklungsprozesse und anhand des Konzepts, das die Gruppe „Stadt von Unten“ 2017 für das Dragonerareal in Berlin-Kreuzberg entwarf (Stadt von Unten 2022), erarbeitet Reuschling zentrale Fragen eines aktuellen feministischen Städtebaus. Dabei fokussiert sie auf die Eigentumsfrage sowie die Selbstverwaltung staatlicher Ressourcen. Ebenso wichtig findet sie flexible Grundrisse, um das Idealbild der Kleinfamilie nicht durch isolierende Küchen und kleine Schlafkammern zu zementieren sowie kooperative Nachbar*innenschaften mit kleinräumigen Infrastrukturen der sozialen Reproduktion (ebd.: 181 ff.). Reuschling zeigt, wie „Emanzipation durch eine praktische Verbindung materieller und ideeller Lebensformenpolitiken möglich werden kann“ (Raab 2023: 128).

Die Beiträge des Bandes diskutieren verschiedene historische Entwürfe, die letztlich die Trennung von öffentlicher und privater Sphäre zu überwinden suchten und eine Neuorganisation der sozialen Reproduktion anstrebten. Dabei gelingt es ihnen, sowohl utopische Momente als auch theoretische Fallstricke und praktische Selektivitäten konkreter Entwürfe herauszuarbeiten. Dass sich einige Errungenschaften „in Ländern des globalen Nordens als neoliberales Zerrbild realisiert“ haben (Kitchen Politics 2023b: 33), erinnert daran, dass die Möglichkeit zur Externalisierung von Sorgearbeit weiterhin auf ungleichen Klassenverhältnissen, restriktiven Migrationsregimen und der rassifizierten sowie vergeschlechtlichen Aufteilung dieser Arbeit beruht (ebd.). Wie der Alltag unter dem Gewicht der gesellschaftlichen Verhältnisse transformiert werden kann, ist die zentrale Frage, die Lesende von der Lektüre des Buches mitnehmen.

Während Kollontais Text zurecht nicht unkommentiert veröffentlicht wird und gerade durch die Gruppendiskussion mit Erfahrungswissen verknüpft wird, lassen sich die anderen Beiträge auch sehr gut einzeln lesen. Dementsprechend bringt eine komplette Lektüre des Bandes ein paar Redundanzen mit sich. Die ausführliche Einleitung des Kollektivs hat stellenweise einen akademischeren Duktus als in vorherigen Bänden der Reihe Kitchen Politics. Sie vermittelt den Eindruck, dass die Herausgeber*innen sich nach vielen Seiten absichern wollen, was möglicherweise an den vielen unterschiedlichen Anliegen des Buches liegt. Die Einleitung bildet zugleich einen bereichernden Rahmen und wird abgerundet durch zwei sehr vielversprechende Borschtsch-Rezepte, die Kopf, Herz und Gaumen anregen. Für Lesende bietet das Buch zahlreiche Anlässe, ihr eigenes Leben mit gesellschaftlichen Verhältnissen in Beziehung zu setzen.[2] Einige Diskussionsstränge dürften Rezipient*innen früherer Bände der Reihe oder bisheriger Publikationen aus dem Kreis der Herausgeber*innen bekannt vorkommen. Es ist schön, dass es so langjährige, kluge politische Diskussionszusammenhänge gibt. In der nun folgenden Einordnung des Bandes konzentriere ich mich auf einige Verbindungen zu materialistisch-feministischer Stadtforschung.

Das Buch ermutigt Stadtforschende zum Antreten materialistisch-feministischer Erbschaften. In diesem Sinne lohnt sich die (Re-)Lektüre von Publikationen, die auf die enge Verknüpfung zwischen feministischer Bewegung und Architektur, Stadtplanung und Stadtsoziologie Anfang der 1980er Jahre verweisen. Diese benennt auch Reuschling (2023c [2017]: 182) in Bezug auf die Internationale Bauausstellung in Berlin 1987. Hervorzuheben sind in diesem Zusammenhang jeweils eine Ausgabe der ARCH+ von 1981 und der von der Gruppe „Frauen Steine Erde“ herausgegebenen beiträge zur feministischen theorie und praxis von 1980 (siehe dazu Rodenstein 2005; Karwath 2019). Zum Weiterlesen lädt die sehr detailreiche historische Aufarbeitung feministischer Verbindungen zur Wohnungsfrage ein, etwa der internationalen Diskussionen zum Einküchenhaus in Die Wohnungsfrage ist Frauensache (Terlinden/von Oertzen 2006). Ähnlich wie es Reuschling für Berlin tat (2023c [2017]), beschäftigen sich aktuell international Stadtforschende wie Oona Morrow und Brenda Parker (2020) mit den feministischen Erbschaften der grand domestic revolution (Hayden 1981). Sie erweitern diese zudem um eine intersektionale Perspektive und rücken commoning, Kollektivität und Sorgearbeit ins Zentrum der Überlegungen zu künftigen urbanen Transformationen.

Auch Theorien der sozialen Reproduktion (Federici 2012; Bhattacharya 2017) werden in der Stadtforschung vermehrt rezipiert. Stadt und Wohnung werden dabei als Orte der sozialen Reproduktion gerahmt und mit Blick auf (intersektionale) Ungleichheiten und Widerständigkeiten untersucht (Karataş 2023; Lentz 2023; Black 2020; Madden 2020). Forscher*innen analysieren urbane Kämpfe um soziale Reproduktion zudem in Verbindung mit Akkumulationsregimen (Uhlmann 2023, 2022; Sarnow 2023; Steenblock 2020; Kuschinski 2019).

Eine solche Perspektive stellt meines Erachtens eine wichtige Ergänzung zum eingangs erwähnten zweifachen Materialismusverständnis dar (Kitchen Politics 2023b: 13). Letzteres umfasst im Verlauf des besprochenen Buches im Wesentlichen zwei Aspekte: erstens marxistisch-feministische Perspektiven auf vergeschlechtlichte Arbeitsteilung und zweitens die Materialität städtebaulicher Entwürfe, die eine Überwindung dieser Arbeitsteilung anstreben. Ein dritter zentraler Aspekt, der in dem Band zwar anklingt (Kitchen Politics 2023b: 19 f.; Duma 2023: 162 ff.; Reuschling 2023c [2017]: 181), lässt sich noch weiter explizieren und für eine Analyse der Möglichkeitsbedingungen solidarischer Lebensweisen nutzen: Es geht um ein Verständnis davon, wie Kapital durch Urbanisierungsprozesse und die Enteignung von Reproduktionsmitteln akkumuliert wird – also durch die Finanzialisierung und Privatisierung von Wohnraum und anderen sozialen Infrastrukturen. Im Rückgriff auf Rosa Luxemburgs Theorem der Landnahme (1975 [1913]) werden solche Prozesse in den letzten Jahren – nicht zuletzt dank der Publikation von Federicis Arbeiten durch das Kollektiv Kitchen Politics – als fortgesetzte ursprüngliche Akkumulation (Federici 2012), Akkumulation durch Enteignung (Harvey 2007) oder neue Landnahme (Dörre 2022) diskutiert (siehe auch Feministische Autorinnengruppe 2013; Uhlmann 2023). Materialistisch-feministisch Stadtforschende setzen solche Prozesse ins Verhältnis zu alltäglichen Lebensbedingungen in Städten. Sie ermöglichen so einen Blick auf die Subjekte urbaner Kämpfe sowie deren Zusammensetzung, Subjektivierungs- und Beziehungsweisen (Uhlmann 2023; Sarnow 2023; Gray 2022; Reichle 2021; Steenblock 2020; Parker 2017).

Einen Ausgangspunkt feministischer Bestrebung zur Entwicklung anderer Wohn- und Lebensweisen, der sich bei Kollontai (2023 [1918]: 50) und Reuschling (2023c [2017]: 182) andeutet, untersuchen Lucí Cavallero und Verónica Gago (2023) in ihrer Studie zu feministischen Kämpfen während der Coronakrise in Buenos Aires: Geschlechtsspezifische Gewalt und deren ökonomische und staatliche Möglichkeitsstrukturen. Sie zitieren feministische Kollektive mit ihrer Parole „Der Haushalt darf kein Ort der machistischen Gewalt und der Immobilienspekulation sein“ (ebd.: 65). Sie verdeutlicht die Auswirkungen gegenwärtiger Akkumulationsweisen, denn diese versuchen das (Über-)Leben in Wert zu setzen und greifen es damit an. Die Parole zeigt zudem, wie sich verschiedene Kämpfe durch entsprechende Analysen miteinander verbinden lassen. Die Lehren, die sich aus den im Band besprochenen konkreten Entwürfen materialistischer Feminist*innen des 20. Jahrhunderts ziehen lassen, verweisen so auf die Frage nach den aktuellen räumlichen und sozialen Bedingungen für kollektivere und freiere Beziehungsweisen.