sub\urban. zeitschrift für kritische stadtforschung 2024, 12(2/3), 201-210

doi.org/10.36900/suburban.v12i2/3.969

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Hinterbliebene Dinge

Annabelle Müller

Was passiert mit all jenen gesammelten Besitztümern, die ein Leben begleitet haben, nach dem Ende dieses Lebens, wenn die Dinge nicht mehr benötigt werden? Mitunter erzählen sie Geschichten gelebten Lebens, von Erinnerungen, Routinen, Ritualen und Erfahrungen. Haushaltsauflösungen rücken ebendiese Materialitäten in den Fokus, eröffnen jedoch auch den Blick auf das Wohnen[1] selbst beziehungsweise auf die Auflösung desselben.

Viele Begriffe umschreiben und benennen ein zutiefst alltägliches und banales Phänomen: Wohnort, Zuhause, Haus, Unterkunft, Behausung oder Wohnung – all diese Begriffe beziehen sich auf das Wohnen. Angelehnt an Alison Blunt und Robyn Dowling (2022 [2006]) beziehe ich mich auf Wohnen als etwas Prozesshaftes und Multiskalares, das zugleich materiell und imaginiert sowie von Macht durchzogen ist. Entgegen einer alltagssprachlichen Zuordnung von Zuhause als sicherem Zufluchtsort zeigt insbesondere der Blick auf häusliche Gewalt[2], dass auch dieser Ort von Gewalt, Macht- und Missbrauchserfahrungen geprägt sein kann.

Zugang zur Auseinandersetzung mit Haushaltsauflösungen bildet für mich der Fokus auf Wohnen als Praktik, als prozesshaft. Das Sterben ist in diesem Sinne ein Einschnitt in die Konstitution des Wohnens selbst. Wohnpraktiken als konstituierendes Element (etwa Putztätigkeiten wie Staubsaugen, Wischen oder Spülen, aber auch Aufräumen oder Einrichten) stehen jedoch in einem direkten Verhältnis zu Auswohnpraktiken. Mit dem Begriff „Auswohnen“ beziehe ich mich auf Jürgen Hasse (2020), der dieses als Gegenstück zum „Einwohnen“ versteht, als zugleich räumlich und emotional (2020: 133). Ich erweitere diese Konnotation jedoch um Richard Baxters und Katherine Brickells (2014) Konzept des home unmaking. Auswohnen umfasst in diesem Sinne eine Bandbreite von Wohnprozessen von Wohnungslosigkeit oder Zwangsräumungen (vgl. u. a. Dimitrakou/Hilbrandt 2022) über eine Zerstörung von Wohnräumen durch Krieg oder Naturkatastrophen über häusliche Gewalt und Einbruch bis hin zu Haushaltsauflösungen nach Scheidungen oder Todesfällen (Baxter/Brickell 2014: 135). Auswohnen (im Sinne von home unmaking) bezeichnet damit den „prekäre[n] Prozess, durch den materielle und/oder imaginierte Bestandteile des Wohnens aus Versehen oder absichtlich, vorübergehend oder dauerhaft abgegeben/enteignet[3], beschädigt oder sogar zerstört werden“ (Baxter/Brickell 2014: 134; Übers. d. A.).

Meinen eigenen Zugang etablierte ich über narrative Interviews mit professionellen Haushaltsauflösenden sowie mit Angehörigen, die Haushaltsauflösungen durchgeführt haben und durch teilnehmende Beobachtung. Herr X[4], ein professioneller Haushaltsauflöser, verdeutlicht diesen Aspekt, indem er über die Materialisierung von Auswohnprozessen spricht. Diese zeigten sich insbesondere in Momenten, in denen all jene Praktiken, die zur Reproduktion des Wohnens beitragen, nicht mehr (ausreichend) durchgeführt werden – beispielsweise die gründliche Reinigung und das Spülen des Geschirrs (Herr X). Gleichzeitig wirft dies den Blick darauf, dass das Sterben selbst kein punktueller Prozess ist, sondern sich vielmehr über einen längeren Zeitraum vollziehen kann. In diesem Sinne erfährt der Begriff des Sterbens eine zeitliche Ausdehnung, die über den konkreten Moment des Todeseintritts hinausgeht (Salis Gross 2001: 59). Sterben ist somit eng verknüpft mit Fragen der Selbstständigkeit und des Pflegebedarfs – und damit auch mit dem Diskurs um Alter und Altern, mit Fragen des ageing in place (vgl. Müller 2023). Doch woher genau stammt diese enge Verknüpfung mit dem eigenen Wohnen? Ich kann hier keine endgültige Antwort darauf geben. Unterschiedliche Autor_innen verweisen jedoch auf die Funktion des Wohnens als Ort der Selbstdefinition und der Identifikation, als Ausdruck des eigenen Seins (vgl. etwa Boccagni/Kusenbach 2020; Samanani/Lenhard 2019; Datta 2008).[5] In diesem Sinne relativiert sich die Aussage von Herrn X: „Wenn man das pauschalisiert, ist in jedem Schrank das Gleiche drin. Ich brauche in keinen Küchenschrank der Welt reinzugucken, weil ich weiß, was im Küchenschrank drin ist. Es ist immer das Gleiche. Das Gleiche gilt für Kleiderschränke oder Wohnzimmerschränke […], irgendwann weißt du, was drin ist.“ (Herr X) Die Anordnung der Dinge verweist auf Gemeinsamkeiten von Wohnmaterialitäten. Sie ordnen sich dem zugeschriebenen Nutzen unter, haben etwas Vertrautes (Pink 2020 [2004]: 1): Das Geschirr steht zumeist an dem Ort, an dem gegessen und gekocht wird, Stifte sind in Schreibtischnähe und die Kleidung im Schlafzimmer. So unterschiedlich Menschen wohnen, so vorhersehbar ist ihr Wohnraum – Wohnen ist somit auch ein Ausdruck gesellschaftlicher Kategorien und kollektiver Vorstellungen. Innerhalb derer finden sich nichtsdestoweniger individuelle Ausgestaltungen als Teil von Identitätskonstruktionen wieder. Die Ausgestaltung innerhalb dieser Grenze ist ein Ausdruck persönlicher Gestaltung und von Vorlieben ebenso wie von Umständen, äußeren Einflüssen, Erinnerungen und Erlebtem, wie Abbildung 1 sichtbar macht – eine Zeichnung, die ich nach meiner teilnehmenden Beobachtung angefertigt habe. Hier wird das Spannungsfeld deutlich zwischen einer generellen Ordnung einerseits, die eingebettet ist in gesellschaftliche Kontexte und einer individuellen Ausgestaltung innerhalb dieser Vorstellungen andererseits.

Abb. 1 Ansicht der Küche (eigene Darstellung d. A.).
Abb. 1 Ansicht der Küche (eigene Darstellung d. A.).

Wir definieren unsere Identität und erzählen eine Geschichte unseres Lebens (Crang 2012: 763): „[i]n den Wohn- und Lebenswelten […] [werden] deutlich die Lebens-, Leit- und Glaubensvorstellungen der Individuen in ihrem Spannungsfeld von kollektiver Beeinflussung und persönlicher Gestaltung […]“ (Katschnig-Fasch, zitiert nach Schwertl 2010: 12). Wohnungen und Häuser sind in diesem Sinne identitäre Räume, die durch gesellschaftliche Prozesse geprägt sind, in denen das „Individuelle vergesellschaftet“ ist (ebd.). Dieser Aspekt wird insbesondere deutlich im Blick auf diasporische Haushaltsauflösungen, wie Elke-Vera Kotowski (2018) sie beschreibt. Hier werden die Dinge selbst als „geschichtete Objekte“ zu Vehikeln von Flucht. Sie besitzen durch den Übergang auf nachfolgende Generationen eine eigene Exilbiografie (ebd.: 288). Vergesellschaftlichte Biografien von Migration oder Flucht, aber auch Erwerbsbiografien stehen damit ebenso im Zentrum der Frage: Was gibt es aufzulösen und weiterzugeben? Wer wurde durch gebrochene Lebensläufe schon vor der endgültigen Auflösung ausgewohnt? Durch diese Fragen wird deutlich, dass zentrale Fragen des Auswohnens sich auch entlang von Migrationsbiografien und finanziellen Verhältnissen strukturieren.

Davon ausgehend verweist diese Funktion des Wohnens als einem identitären Raum auf die Vielschichtigkeit der Auflösungen und des Auswohnens selbst. Denn neben der praktischen Arbeit des Entsorgens stehen Aushandlungs- und Abschiedsprozesse, sowohl zwischen den Angehörigen als auch im anschließenden Einweben der geerbten Gegenstände in das eigene Wohnen. Das Auswohnen steht damit in einem iterativen Verhältnis zu Wohnpraktiken, zum Wohnen-Machen. Darüber hinaus sind Haushaltsauflösungen geprägt von einem Netzwerk aus Interessen, Perspektiven und Gefühlen und damit eingebettet in soziale Aushandlungsprozesse. Besonders deutlich wird das bei der Verteilung von Erbstücken. Katharina, eine Angehörige, spricht davon, dass ihr vor der eigentlichen Auflösung insbesondere die Aushandlung mit ihren Geschwistern Sorge bereitet hat, sodass sie ein Punktesystem vorschlug. Haushaltsauflösungen stellen darüber hinaus auch ein mehr-als-menschliches Netzwerk dar, in dem die aufzulösenden Wohnungen und hinterbliebenen Gegenstände den Prozess der Auflösung durch ihre affektive Wirkmächtigkeit als Vehikel von Erinnerungen (Körte 2004: 110 ff.), Geschichten und anderen Bedeutungen begleiten – also durch die Verknüpfung von Repräsentation und Materialität: Was wird behalten und warum fällt es so schwer, manche Dinge gehen zu lassen? Es verdeutlicht darüber hinaus, dass sich Wohnen selbst aus diesem Verhältnis zwischen Menschlichem und Mehr-als-Menschlichem konstituiert (McKeithen 2017: 3).

Die Auflösung findet eingepasst in den Alltag der Auflösenden statt, als etwas, das „abgearbeitet werden muss“ (May), wie May im Gespräch die Haushaltsauflösungen ihrer Eltern einordnet. Das Nachdenken und Reflektieren über das Leben und Sterben, die Erinnerungen an die verstorbene Person finden zum Zeitdruck der Auflösung meist keinen Platz (Süssmann/Staffelbach 2019: 18). Hier stehen vielmehr Fragen des Entsorgens und Behaltens, des Weitergebens und Verschenkens im Vordergrund und damit die schiere Materialität, die eine Auflösung bedeutet. Diese schlägt sich sowohl in verkörperten Erfahrungen wie Ekel oder Muskelkater nieder als auch in der Menge der zu bewegenden Gegenstände: Immerhin bedeutet laut Herrn Z die Auflösung einer 3-Zimmer-Wohnung eine produzierte Müllmenge von etwa anderthalb bis zwei Tonnen. Denn obwohl professionelle Auflösende einen Weiterverkauf der Gegenstände im eigenen Laden und damit eine Weitergabe der hinterbliebenen Dinge anstreben, werden bei einer professionellen Haushaltsauflösung 80 bis 90 Prozent der vorhandenen Gegenstände entsorgt (Herr X). Die Ansichten der Müllsäcke und des Flurs (Abbildungen 2 und 3) unterstreichen diese Materialität.

Abb. 2 Ansicht des Flurs (eigene Darstellung d. A.)
Abb. 2 Ansicht des Flurs (eigene Darstellung d. A.)

Ein genauerer Blick auf den Begriff des Entsorgens enthüllt dessen affektive Dimension, denn das Entsorgen selbst beinhaltet den Begriff der Sorge. Das Ent-Sorgen ist somit auch ein Ausdruck des Abwendens von Sorgebeziehungen und -arbeit. Es verweist jedoch im selben Moment auf die Sorgebeziehung zwischen Mensch und Materie, die durch Wertzuschreibungen, Repräsentationen, Erlebnisse und Geschichten reproduziert wird: „Du musst es ja auch mal angucken und mal pflegen und mal abstauben und mal sauber machen.“ (Katharina). Dieses Zitat über Geerbtes verdeutlicht, dass die Sorgebeziehungen zu den Wohnmaterialitäten durch Wohnpraktiken Ausdruck finden und sich reproduzieren. Wohnpraktiken sind somit eine Reproduktion von Sorgebeziehungen. In Rückbezug auf Auswohnpraktiken findet nun im Nichtstattfinden reproduzierender Wohnpraktiken eine Auflösung der Sorgebeziehungen statt – wie etwa im Moment des Sterbens und – noch verstärkt – im Moment der Auflösung.

Doch nicht alle Gegenstände werden ent-sorgt. Einige finden ihren Weg ins Wohnen von Angehörigen oder Hinterbliebenen. Hier mäandrieren sie zwischen Gebrauchsgegenstand und Erinnerungsstück, zwischen Nutzwert und affektivem Wert. Ich bemühe hier den von Avril Maddrell (2020) geprägten Begriff der deathscapes, einer Beschreibung von Orten des (institutionalisierten) Sterbens und Trauerns wie Friedhöfen, Bestattungshäusern und Denkmälern, welche die Erinnerungsfunktion der Gegenstände in den Blick nimmt. Noch vor oder während der Auflösung kann der Wohnort von Verstorbenen ein Ort des Trauerns und Sterbens sein. Die Auflösung selbst kann einen Abschied und damit den Teil einer deathscape konstituieren. May beschreibt dies wie „noch mal so ein kleines Sterben“ (2022). In Form von „absent presences“ (Heng 2018: 219) finden Erinnerungsstücke und Dinge Einzug in die Häuser und Wohnungen der Hinterbliebenen – eine erinnerte Abwesenheit durch die Anwesenheit der vererbten Gegenstände und der mit ihnen verknüpften Erinnerungen. „Die Truhe zum Beispiel […], da hab ich schon als Kind drauf gesessen, […] dann ist die mitgewandert. […] Und da sehe ich halt, wie die Truhe da steht […], rieche ich das Haus.“ (May). Vererbte Gegenstände können so zu Vehikeln des Erinnerns werden (Körte 2004: 110 ff.) und als zerstückelte deathscape ein Teil des Wohnens werden.

An diesem Punkt besteht die Gefahr, das Abschiednehmen und Sterben zu romantisieren, denn diese Perspektive klammert all jene Umstände des Sterbens aus, die über die Alltäglichkeit hinausgehen: Was ist mit all jenen, die zum Zeitpunkt des Todes keinen festen Wohnort hatten, beispielsweise aufgrund von Wohnungslosigkeit? Was ist mit all jenen, die durch Flucht oder andere Katastrophen ihre materiellen Erinnerungsstücke verloren haben? Was ist mit jenen Auflösungen, die niemanden kümmern? Die Schwere des Abschieds und das Weiterleben der Dinge in jenen vererbten Gegenständen setzt voraus, dass Erinnerung und Weiterleben gewollt sind. Denn nur durch die affektive Aufladung der Gegenstände können diese zu Repräsentationen negativer Erfahrungen und Erinnerungen werden, auch von schmerzhaften Erlebnissen oder toxischen Beziehungen.

Der Blick auf das Ende des Wohnens eröffnet vielfältige Perspektiven auf das Wohnen – und Leben – selbst. Beim Rückblick auf die entsorgten oder vererbten Gegenstände wird deutlich, dass Wohnen sich konstituiert durch mehr-als-menschliche Sorgebeziehungen. Diese äußern sich im Ent-Sorgen der Wohnmaterialitäten selbst sowie in der Aushandlung des Behaltens und Wegschmeißens mit Anderen. Wohnen ist in diesem Sinne ein Prozess des Sorgens, der eng mit Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft verwoben ist. So bleiben die Dinge, verweben Aspekte des Erinnerns und Trauerns, des Sterbens und Abschiednehmens mit der banalen Alltäglichkeit des Wohnens. Durch diese Verflechtungen wird das Wohnen zu einem Teil der Nekropolis und zeigt damit auf, wie eng miteinander verknüpft Leben und Tod im Wohnen sind.

Abb. 3 Ansicht der gefüllten Müllsäcke vor der Haustür (eigene Darstellung d. A.)
Abb. 3 Ansicht der gefüllten Müllsäcke vor der Haustür (eigene Darstellung d. A.)