Der Band Gefährliche Abstraktionen versammelt Aufsätze aus den letzten 18 Jahren, in denen der Frankfurter Geograph Bernd Belina aus marxistischer Perspektive zeigt, wie im neoliberalen Zeitalter mittels räumlicher Abstraktionen ein Management der Bevölkerung betrieben wird. Das Werk ist besonders relevant in Zeiten, in denen die Bevölkerung durch Kriminalisierung vermeintlich Anderer aufgehetzt wird.
„Gefährlich“, wie es im Buchtitel heißt, ist dies, da das Regieren anhand von Raum auf einer verdinglichenden, raumfetischisierenden Abstraktion basiert: Der direkte Zusammenhang zwischen Kriminalität und Raum blendet strukturelle Verhältnisse und die soziale Produziertheit von Kriminalität aus. Sowohl bei sogenannten „Gefahrenräumen“ als auch bei Kriminalitätskartierungen, die vermeintlich „kriminelle Räume“ hervorheben, werden stabil verstandene, manifeste räumliche Wirklichkeiten zum erklärenden Faktor erhoben. Diese Abstraktionen verdrängen die Bedeutung sozialer Verhältnisse und schreiben dem Raum selbst Kriminalität zu. Marginalisierte geraten über diese Politik handlungsleitender symbolischer Raumproduktionen in den Fokus polizeilicher Praxis. Gedeckt durch eine positivistische Rationalität, in deren Zentrum Raum steht, kommt es zu diskriminierenden Praktiken der Polizei wie Racial Profiling. Strukturelle Ungleichheit wird so verstärkt.
Hervorheben möchte ich drei besonders gewinnbringende Aspekte des Buchs. Erstens zeigt Belina durch Bezüge zu früheren Auseinandersetzungen in der Stadt- und Kriminalpolitik sowie der Kriminologie Kontinuitäten und Brüche in der Gestaltung polizeilicher Praxis auf und ordnet diese mit Blick auf polit-ökonomische Verhältnisse ein (Kapitel 3, 4 und 5). Gegenwärtige Praktiken des Zusammendenkens von Raum und Kriminalität stellt er früheren Versuchen der Sozialphysik gegenüber und erläutert aufschlussreich den spezifisch spätmodernen Charakter von „Governing through Crime through Space“ (Belina 2023: 24)[1], wie er es nennt. Damit enthält das Buch für die kritische Kriminologie ebenso wichtige Erkenntnisse wie für die kritische Stadtforschung.
Zweitens vereint Belina in seiner interdisziplinären Arbeitsweise auf gelungene Weise Geographie, Kriminologie und Stadtforschung miteinander. Ausgehend von einer marxistischen Perspektive analysiert er Rechtsgrundlagen, kriminologische Theorien, stadtpolitische Entwicklungen und Kartographien. Dabei rekonstruiert er disziplinübergreifend das Projekt formaler Herrschaft. In verschiedenen Aufsätzen zeigt er, wie in Diskursen, Visualisierungen, juristischen Definitionen und simulativen Praktiken (Predictive Policing) Vorstellungen von Kriminalität und Raum objektiviert und als gefährliche Abstraktionen handlungsleitend eingesetzt werden. Durch die analytische Dekonstruktion des Raumfetischismus sensibilisiert Belina anhand von Beispielen die Lesenden dafür, scheinbar logische und positivistische Ordnungstechniken durch Raum kritisch zu hinterfragen.
Drittens ist Belinas Buch für die Frage von Bedeutung, welchen Beitrag die kritische Forschung zum Politischen leisten kann. Der Autor bearbeitet diese Frage nicht nur theoretisch und analytisch, sondern wendet sie auch reflexiv auf die Wissenschaftspraxis selbst an. Durch Verweise auf widerständige und emanzipatorische Wissensvorräte und Praktiken hinterfragt er die Hierarchisierung von Wissen, die Wissenschaft (meist) zugrunde liegt. Beispiele hierfür sind Belinas Ausführungen zum Abolitionismus (ebd.: 42 ff.) und seine Darstellung des Counter-Mappings (ebd.: 291 ff.). Ebenso zählt der Hinweis, dass Betroffene rassistischer Polizeiarbeit über spezifische Wissensbestände verfügen, die von der Forschung weitgehend ausgeschlossen werden (ebd.: 160), dazu. Seiner durchaus pessimistischen Einordnung gegenwärtiger Regierungspraxis, der wissenschaftlich und bürokratisch legitimierten Verschleierung von Machtverhältnissen durch räumliche Abstraktion, setzt Belina so eine hoffnungsvolle(re) Perspektive entgegen. Entscheidender für die Frage des Politischen aber ist: Belina erkennt zivilgesellschaftliche Widerstandspraktiken und kreative Umnutzungen als bedeutende Wissensproduktionen an und vollzieht damit eine Wende zum Transdisziplinären (Streule 2014). So lese ich seine Arbeit als einen Schritt in Richtung einer solidarisch wertschätzenden Bearbeitung sozialer Machtverhältnisse über die Grenzen der Wissenschaft hinaus.
Gleichzeitig hat die intensive Auseinandersetzung mit Belinas wichtigen Analysen bei mir zu weiterführenden Überlegungen geführt. Zunächst teile ich seine Einordnung des Counter-Mappings nur bedingt. Er argumentiert, dass beim Counter-Mapping durch das aktive Sichtbarmachen der symbolischen Raumproduktionen eine Ent-Fetischisierung am Werk sei (ebd.: 310). Dem widerspreche ich ausgehend von meiner Forschung zur Arbeit der interdisziplinären Forschungsagentur Forensic Architecture (Godarzani-Bakhtiari 2024), auf die sich auch Belina bezieht. Auch wenn Forensic Architecture bei ihren Investigationen von Gewaltereignissen reflexiv aufzeigt, wie sie (Tat-)Räume meist digital (re-)produziert (worin Belina eine Ent-Fetischisierung sieht), verräumlicht sie, so argumentiere ich, in ihren Modellen letztlich das Soziale und macht es damit selbst unsichtbar. Beim Anschlag von Hanau 2020 ist es zum Beispiel die Verräumlichung vom Geräusch des Schusses, mit dem der Täter seine Mutter tötete, über welche nachgewiesen wird, dass es Ungereimtheiten in den polizeilichen Aussagen gibt.[2] Die Arbeit von Forensic Architecture ist, wie ich zeige, gerade durch die letztlich vollzogene Herstellung von Raumwirklichkeit als vermeintlich objektive und damit scheinbar „nicht-soziale“ Evidenzwirklichkeit kommunikativ wirkmächtig. Dementsprechend vollzieht auch Forensic Architecture Gefährliche Abstraktionen. Doch bedeutet dies, dass das Counter-Mapping von Forensic Architecture grundsätzlich abzulehnen ist?
Ich schlage vor, für die Beantwortung dieser Frage zur Konzeptualisierung der Abstraktion zurückzukehren, die Belina selbst (2023: 16) mit Bezug auf Sonja Buckels (2015) Ausführungen zum Rechtssystem herausarbeitet, allerdings auf räumliche Abstraktionen nicht anwendet. Jede Abstraktion hat einen Doppelcharakter: Aufgrund des Allgemeinheitscharakters (es ist eben eine Abstraktion) erlauben sie verschiedene Füllungen – auch politisch emanzipative. So können beispielsweise im Recht auch jene, die das Recht ausschließt, ihre Anerkennung als Rechtssubjekte einfordern. Ebenso kann durch räumliche Abstraktion auch das, was Herrschaft zu verschleiern sucht, als vermeintlich objektive und damit kritikwürdige Realität manifest gemacht werden, wie Arbeiten von Forensic Architecture zeigen.
Hier spielt hinein, dass Raum – auch der des Raumfetischismus – immer sozial ist, ganz gleich, was er vorgibt zu sein. Raumfetischisierende Produktionen müssen sozial gedeutet werden, um Sinnhaftigkeit zu generieren. Gerade das macht Belina deutlich, wenn er zeigt, dass Kriminalitätskartierungen entpolitisiert daherkommen, jedoch genau aus diesem Grund politisch sind. Er deckt das Politische des scheinbar Unpolitischen auf und nimmt so eine Umdeutung vor, welche die symbolischen Raumproduktionen selbst neu konstituiert: Aus Kriminalitätskartierungen werden durch Belinas Analysen Kartierungen der Kriminalisierung. Die Umdeutungen ändern nichts an den visuellen Darstellungen der Karten, dennoch wird durch sie nun ein anderes soziales Verhältnis verräumlicht. Nicht mehr Kriminalität, sondern politische Herrschaft wird objektiviert und fassbar gemacht. Ich schlage deshalb vor, nicht bei der Feststellung des Raumfetischismus als Gefährliche Abstraktionen stehen zu bleiben, sondern stattdessen den Blick auf die Praktiken der Deutung(en) zu verlagern – die selbst ent-fetischisierend eingesetzt werden können (wie von Forensic Architecture). Je nach Sinnkonstruktion, die an die Abstraktion geknüpft wird, kann eine Abstraktion so für etwas oder jemanden – auch für die hegemoniale Ordnung – gefährlich werden. Hierin liegt das politische Potenzial des Raumfetischismus: Es kann gegen die Macht des Staates selbst gewendet werden. Wie und wodurch Abstraktionen nicht nur politisch im Sinne der Macht – was Belina eindrücklich zeigt –, sondern auch emanzipativ gegen die Macht eingesetzt werden, gilt es weiter zu untersuchen.
Gerade weil Belinas Buch einen bedeutenden Beitrag zur interdisziplinären Auseinandersetzung liefert, fehlt mir außerdem ein konsequentes Mitdenken kolonialer Vergangenheiten und Gegenwarten. Deutlich wird dies aus meiner Sicht schon an der Einleitung. In dieser leitet Belina historisch und theoretisch die Etablierung staatlicher Ordnung, Recht und Polizei lediglich aus kapitalistischen Strukturen ab, ohne koloniale und globale Herrschaftszusammenhänge zu beleuchten. Eine materialistische Theorie, welche die Bedeutung des Kolonialismus verkennt, ist jedoch eurozentristisch. Dem scheint im Grunde auch Belina zuzustimmen, was sich daran zeigt, dass er in der Einleitung (skizzenhaft) auf postkoloniale Perspektiven verweist. Das Einarbeiten dieser globalen Perspektive in seine Theorie bleibt jedoch aus – sie bleibt eine Nebenerzählung. Mir geht es bei der Thematisierung des Kolonialismus nicht nur um die Geschichte. Wie post- und dekoloniale Theorien aufzeigen, bestehen koloniale Machtverhältnisse auch nach der formalen Dekolonialisierung fort. Für die Erfassung gegenwärtiger Muster sozialer Marginalisierung und Kriminalisierung sind (kontinuierliche) koloniale Zusammenhänge ausschlaggebend (siehe u. a. Aliverti et al. 2021, 2023). Dass diese im Buch nur unzureichend berücksichtigt werden, zeigt sich abseits der Einleitung etwa daran, dass Belina Umwälzungen seit dem 16. Jahrhundert benennt, ohne den Kolonialismus zu erwähnen (Belina 2023: 288 f.). An anderer Stelle bleibt bei der Periodisierung von Kriminalisierung die rassifizierte Moralpanik vor dem islamistischen Terrorismus unerwähnt (ebd.: 59 ff.). Darüber hinaus enthält der Band Erkenntnisse, die durch eine postkoloniale Perspektive vertieft werden könnten, etwa die relevanten Ausführungen zu Rassismus und rassistischen Praktiken (wie Racial Profiling) und deren Auswirkungen. Diese beschreibt Belina als freischwebende, zwar irgendwie existente Realitäten der Praxis, arbeitet jedoch nur unzureichend aus, wie systemisch kolonial verwurzelt sie sind. Ähnliches gilt für die von Belina vorgenommene Einordnung des Rechtsrucks. Dieser ist ein Symptom der Krise, der eben nicht allen voran von radikalen Kräften getrieben wird, wie er (von mir zugespitzt) argumentiert, sondern wesentlich in die kolonial-kapitalistische Ordnung der (Spät-)Moderne eingeschrieben. Rassifizierung ist ein allgegenwärtiges Ordnungsmuster unserer Gesellschaft, auch in der sich als progressiv verstehenden Mitte, die in Momenten der Krise Aufwind erhält. Rassifizierung am Rande der Gesellschaft zu verorten und als vorübergehende Konjunktur zu verstehen, ist wiederum gefährlich. Dieser spezifisch positionierten, kritischen Lesart könnte eine theoretische und historische Einordnung des Kolonialismus entgegenwirken.
Dies bringt mich zu meinem letzten Punkt. Belina schreibt, dass sich in den Raumproduktionen der Alltagsverstand fortschreibt (ebd.: 199). Raumproduktionen seien eigentlich nur die Objektivierung des Alltagsverstandes (ebd.: 231). Will man verstehen, wie Herrschaft funktioniert, muss man daher, so argumentiere ich angelehnt an Belina, die Konstitution des Alltagsverstandes nachvollziehen. Dass Belina die Herstellung des Alltagsverstands nicht beachtet, ergibt sich aus seinem Vorhaben, formale Herrschaft zu untersuchen. Dabei ist im Anschluss an Belina deutlich geworden, dass eine Untersuchung der wechselseitigen Konstitution sozialer Kategorisierungsprozesse und Raumordnung(en) im Alltagsverstand ebenso notwendig ist. Dafür sprechen auch Belinas Erkenntnisse, argumentiert er doch selbst, dass bestimmte Subjekte „vor allem an bestimmten Orten“ (ebd.: 175, eigene Hervorhebung) – doch auch abseits dieser – besonderer staatlicher Kontrolle und Repression unterliegen. Das deutet darauf hin, dass die Ordnungsproduktion on the ground insgesamt auf der bereits erwähnten kolonial-kapitalistischen Logik basiert. Dafür spricht auch Achille Mbembes (2003) Konzept der Nekropolitik. Diese zeichnet sich dadurch aus, dass innerhalb desselben Raumes für verschiedene auf Zuschreibung basierende Subjekte unterschiedliche Rechte wirksam gemacht werden. Durch Abstraktion wirkt die Logik in die formale Herrschaft zurück, sie wird eingewoben und legitimiert – beschränkt sich jedoch nicht auf diese. Aufbauend auf Belinas Buch halte ich die Untersuchung der Frage für notwendig, wie mit Raum Herrschaft nicht nur abstrakt strukturiert und legitimiert, sondern auch praktisch vollzogen wird – in Interaktion in verschiedenen Räumen. Dabei wäre das Verhältnis zwischen formaler Herrschaft und Alltagsverstand stärker herauszuarbeiten.
Abseits dieser Reflexion möchte ich abschließend noch einmal den Wert des besprochenen Bandes hervorheben. Belina zeigt, wie in einer sich als demokratisch verstehenden Gesellschaft Diskriminierung mit neuen Mitteln in die formale Herrschaft eingeschrieben wird. Angesichts des gegenwärtigen Rechtsrucks, in dessen Zuge die Versicherheitlichung voranschreitet, bei der Marginalisierte unter dem Vorwand räumlicher Gegebenheiten zunehmend kriminalisiert werden und rassifizierte Menschen bei Kriminalisierung zunehmend eine Abschiebung fürchten müssen, ist der sozialwissenschaftliche und politische Wert des Buchs absolut gegeben. Es ist eine Lektüre, die alle zu interessieren hat, die sich mit Herrschaft, Polizei und Stadt beschäftigen.