sub\urban. zeitschrift für kritische stadtforschung 2024, 12(2/3), 151-165

doi.org/10.36900/suburban.v12i2/3.980

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Debatte zu: Johanna Hoerning und Lucas Pohl „Zum Verhältnis von Stadt, Sterben und Tod“

Kommentare von: Jan Hutta, Akin Iwilade, Nina Kreibig

Das Recht der Toten am urbanen Raum

Kommentar zu Johanna Hoerning und Lucas Pohl „Zum Verhältnis von Stadt, Sterben und Tod“

Nina Kreibig

1. Einleitung

Dort, wo gelebt wird, wird auch gestorben. Diese banale Erkenntnis unterstreicht die Notwendigkeit von Orten respektive von Institutionen, die sich der Sterbenden oder der Verstorbenen annehmen. Der städtischen Umgebung kommt in diesem Kontext eine besondere Bedeutung zu, intensiviert sich hier doch aufgrund der räumlichen Enge im Gegensatz zu ländlichen Gebieten das Bedürfnis eines angemessenen Umgangs mit der Thematik, um hygienischen Standards hinsichtlich der Populationsverdichtung gerecht zu werden. Ein derartiges Erfordernis ergibt sich zum einen aus den formalen Vorgaben, die von Rechts wegen im Umgang mit menschlichen Überresten vorgeschrieben sind, berücksichtigt aber zum anderen auch Pietätvorstellungen, die explizit auf die Anerkennung einer Achtung von Verstorbenen rekurrieren. Der Anspruch auf Pietät in diesem Kontext kann unter anderem deswegen erhoben werden, da die Verstorbenen der menschlichen Spezies angehört hatten, und unter Berücksichtigung ihrer einstmaligen Individualität (Preuß 2015: 205). Daraus leitet sich auch der Hinweis auf eine Notwendigkeit von Raum für die Toten ab. Dieser Ansatz kann zugleich mit der seit den späten 1960er-Jahren wiederholt gestellten Forderung nach einer Teilhabe am urbanen Geschehen, einem „Recht auf Stadt“ (Harvey 2013: 19; Lefebvre 1996 [1968]) in Verbindung gebracht werden.

Verstorbene Menschen können hingegen keine Bedürfnisse geltend machen. Somit wird es im Folgenden darum gehen, den Partizipationsansprüchen der Lebenden nachzugehen, die Postulate auf Gestaltung und Nutzung des urbanen Raumes nach Gesichtspunkten von Tod und Sterben erheben. Die Relevanz einer solchen Betrachtung zeigt sich nicht allein anhand aktueller Prozesse, die aufgrund demografischer und kultureller Veränderungen eine Transformation von Begräbnisplätzen realisieren, sondern auch an einem ausgeprägten Widerstand gegenüber einer Konfrontation mit dem Tod im eigenen Umfeld. Wenn somit die Architekt_innen Madeline Gins und Shūsaku Arakawa eine Architektur propagieren, die als Prolongierung des biologischen Lebens im umgebenden Raum verstanden werden soll, indem die Grenzen zwischen vergänglichem Organismus und fortexistierenden Bauwerken aufgehoben werden, fordern sie in diesem Kontext mittels der Architektur zugleich eine explizite Abwehr des Todes im Sinne eines „Schutzpanzer[s] des Lebens“ (2008: 32-35). Tod und Sterben werden hier zu einem Problem, dem sich aktiv widersetzt werden muss. Den Fragen, ob eine solche Perspektive den generellen Umgang mit der Thematik Tod im städtischen Raum erschwert, ob eine Nivellierung von Strukturen erkennbar ist, die mit Tod und Sterben verbunden sind, und nicht zuletzt welche Auswirkungen derartige Restriktionsforderungen auf die Erforschung der Thematiken haben, soll hier nachgegangen werden. Zudem steht auch die Bedeutung der Forschung über Tod und Sterben in den urbanen Zentren selbst im Fokus der Betrachtung, wenn an dieser Stelle postuliert wird, dass insbesondere ausgewiesene Orte, die mit dem Tod verbunden sind, vielfach Forschungsdesiderate darstellen und insbesondere in ihrer historischen Dimension bisher nicht ausreichend erfasst wurden.

2. Topologie des Todes

Orte, die unmissverständlich mit Tod und Sterben verbunden sind, verfolgen den Zweck, den Tod qua Ordnung einzuhegen oder den Verstorbenen – als einstigen Mitgliedern der Gemeinschaft der Lebenden – Respekt zu zollen. Orte, die diese Zwecke erfüllen, sind zuallererst Begräbnisplätze, aber auch Krankenhäuser, Leichenhallen oder Räumlichkeiten von Bestattungsunternehmen sowie relativ moderne Institutionen wie Hospize. Separiert davon, da allein dem Gedenken gewidmet, können an dieser Stelle auch Mahnmale genannt werden. Somit zeigt sich eine Zweiteilung: erstens in Orte, die den Umgang mit den Leichnamen praktisch umsetzen, und zweitens jene, die der Erinnerung dienen; Begräbnisplätze stellen nach dieser Lesart eine Hybridvariante aus beiden Kategorien dar.

Wie andere Räume auch, sind jene, die dem Tod gewidmet sind, sozial konstruiert, repräsentieren bestimmte Auffassungen und bilden damit gesellschaftliche Machtstrukturen ab (Löw 2012: 146, 153, 171; Schroer 2006: 44, 175 f.). Bedenkenswert ist somit, welche Bedeutung diesen konkreten Orte in der urbanen Gesellschaft zugewiesen wird, welchen Veränderungen sie im Laufe der Zeit womöglich unterworfen waren und welche politischen und sozialen Meinungen sich an ihnen ablesen lassen. Einen besonderen Stellenwert erhalten zumindest Begräbnisplätze in historischen Übersichtsdarstellungen oftmals nicht. So wird der Begriff cemetery in Peter Clarks European cities and towns 400-2000 nur zwei Mal verwendet (2009: 213, 335). In Jürgen Osterhammels Standardwerk zur Geschichte des 19. Jahrhunderts (2010) werden Friedhöfe nicht einmal im Register geführt. Prozesse und Orte des Todes – so meine Behauptung – werden historiografisch mit Ausnahme epidemischer Krankheiten oftmals nicht als relevant für politische und wirtschaftliche Entwicklungen erkannt. Bei sozialen Aspekten bilden sie mitunter nur periphere Bereiche ab, die zwar mitgedacht, aber keineswegs als eigenständige Kategorie behandelt werden.

Orte verfügen über spezifische Konnotationen und bedürfen daher womöglich einer besonderen Klassifikation. Eine solche Einteilung kann beim Kunsthistoriker Ernst Seidl entliehen werden, der von „Raumtypen“ spricht und damit räumliche Strukturen meint, die sich wiederholt in städtischen Kontexten finden lassen und zu „Grundformen des urbanen Raumes“ werden (2009: 12). Obgleich an dieser Stelle Orte des Todes und Sterbens behandelt werden, lässt sich Seidls Betonung der Ubiquität bestimmter Strukturen im städtischen Raum auch auf Friedhöfe und Krankenhäuser übertragen. Wenn hier nun „Grundformen“ festgestellt werden können, so drängt sich die Frage nach der Wechselwirkung zwischen diesen Orten und der mit ihnen lebenden Gemeinschaften auf. Wenn Seidl weiter fragt, ob diese Grundformen auf die Menschen (politisch) zu wirken vermögen, auch ohne, dass ihr Sinngehalt bekannt ist (ebd.: 13), so kann diese Überlegung emotionshistorisch noch erweitert werden, indem nach den Gefühlszuschreibungen geforscht wird, die von diesen Orten ausgehen, sie begleiten oder intendiert mittels dieser eingesetzt werden. Dabei ist fraglich, ob in allen Fällen von Orten, die mit Tod und Sterben verbunden sind, eine derartige Konstellation angenommen werden kann. Hier spielen womöglich Persistenz und Kenntnisstand über die Lokalitäten eine nicht unerhebliche Rolle. Als Topoi des Todes werden im Folgenden somit lang etablierte Strukturen bezeichnet, wie Begräbnisplätze, Erinnerungszeichen sowie traditionelle Orte der Betreuung von Moribunden, wobei das Hauptaugenmerk auf Ersteren liegen wird.

3. Die Toten sind immer in der Überzahl

Die oben ausgeführte Feststellung, dass dort, wo gelebt, auch gestorben wird, suggeriert die Annahme einer erheblichen Relevanz von Topoi des Todes im gesellschaftlichen Gefüge. Schließlich sind die Verstorbenen gegenüber den Lebenden nicht nur in der Überzahl, sondern da wir alle sterben, kann ein ausgeprägtes Interesse am Umgang mit den Verstorbenen postuliert werden. Die Spuren der Menschen, die vor uns gelebt haben, sind ubiquitär. Berechnungen dazu, wie viele Menschen seit Anbeginn der Menschheit auf der Erde gelebt haben und somit auch gestorben sind, finden sich verstärkt seit den 1990er-Jahren. So kommt Carl Haub zur semiwissenschaftlichen Feststellung, dass die Anzahl heutzutage lebender Menschen nur 6,5 Prozent der 108 Billionen Geburten ausmacht, die mit dem Aufkommen des Homo sapiens sapiens angenommen werden können (Haub 2011 [2005]). Die Spuren der Toten, so kann daraus bei allen Zweifeln an der Genauigkeit der Daten geschlossen werden, befinden sich – bildlich gesprochen – unter unseren Füßen, gleichgültig, wohin wir treten.

Dem Begriff der Nekropolis, der Stadt der Toten, der auf Bestattungsplätze angewendet wird, kommt unter diesem Gesichtspunkt eine neue Bedeutung zu. In unserer Überlegung verbleiben die Verstorbenen nicht in ihren klar umgrenzten Bezirken – der Umstand, dass sich der Begriff Friedhof etymologisch keineswegs von friedvoll ableitet, sondern von umfriedet, also umzäunt, sei hier nur am Rande erwähnt. Vielmehr machen sich die Toten mittels des Verweises auf die Dominanz der Zahlen die Stadt – wenn auch nur indirekt – Untertan. Als der Fotograf Michael Ruetz 1976 einen Bildband mit dem Titel Nekropolis herausbrachte, stand für ihn fest, dass damit die Städte der Toten innerhalb und außerhalb der Ansiedlungen der Lebenden gemeint sind. Dies geht bereits aus einem vorangestellten Zitat von Philippe Ariès hervor, der die Totenstadt als „Kehrseite der Gesellschaft der Lebenden“ definierte (1982: 52). Zwei Aspekte sind bei dieser Definition bedenkenswert: Zum einen ist die Frage berechtigt, ob die Anwesenheit der Toten tatsächlich nur auf den Bereich der Friedhöfe im städtischen Kontext begrenzt ist, sodass die Verwendung eines Begriffs wie Nekropolis gerechtfertigt ist. Diese Annahme setzt die Möglichkeit einer präzisen Trennung von Tod und Leben und auch den Wunsch danach voraus, wie er bei Ariès anklingt. Dass hier bereits Zweifel angebracht sind, wird dann deutlich, wenn berücksichtigt wird, dass auch die Lebenden permanent in den Bereich des Todes eindringen. Dies kann nicht allein mit einem Besuch der Gräber begründet werden, sondern drückt sich auch darin aus, dass spätestens mit dem Aufkommen sogenannter Parkfriedhöfe im 19. Jahrhundert der Begräbnisplatz als Möglichkeit der Entspannung vom anstrengenden innerstädtischen Alltag vor dem Hintergrund der Industrialisierung und des Bevölkerungswachstums gesehen wurde (von Zedlitz 1834: 374 f.). Die Lebenden machten den Toten in dieser Hinsicht den Raum streitig. Bedenken über eine derartige Entwicklung werden auch heutzutage wieder vermehrt erhoben, wenn ungenutzte Friedhofsareale zu Parkanlagen oder Kinderspielplätzen transformiert werden (Edible Cities Network / Humboldt-Universität zu Berlin / Technische Universität Berlin 2024). Dieses Postulat wiegt womöglich umso schwerer, wenn nicht nur die Verstorbenen, sondern auch die Sterbenden berücksichtigt werden. Obgleich der Rückzug moribunder Personen aus aktiv geprägten gesellschaftlichen Zusammenhängen oftmals den Bedürfnissen nach Ruhe entspricht, kann dieser auch indirekt erzwungen werden, wenn das Sterben als Last innerhalb der Gemeinschaft empfunden wird.

Sterben und Tod haben einen Preis, der in Form von Pflege und Bestattungen entrichtet werden muss. Auch die Erhaltung von Architekturen des Todes ist kostenintensiv. Grabmäler auf historischen Friedhöfen müssen aufwendig restauriert werden, und die Niederlage im Kampf gegen den Zerfall ist nur eine Frage der Zeit. Auch wenn die Berechtigung eines Anspruchs auf Aufmerksamkeit und Räumlichkeit der Verstorbenen nur selten thematisiert wird, ist es letztlich der monetäre Wert, der in einer kapitalistisch ausgerichteten Gesellschaft abgewogen wird. Wie viel Bedeutung wird den Sterbenden und Toten in unserer Welt, gemessen an der Form von Pflege und Erinnerung, somit zugestanden?

Der Begriff Nekropolis impliziert zum anderen, dass der Tod und seine Ausdrucksformen auf den toten Körper reduziert werden können, dass die Vergänglichkeit des Lebens und das Bewusstsein davon nicht auch anhand anderer Elemente, die auf die Verstorbenen verweisen, innerhalb der Gemeinschaft der Lebenden verbleiben. Materielle Güter werden dadurch vom Nimbus des Todes befreit, indem sie dem Bereich der Lebenden zugeordnet werden oder im besten Fall eine Mittlerposition zwischen Tod und Leben einnehmen. Die Grenzziehung wird somit durch den Terminus unterstrichen, indem der Nekro-polis eine Bios-polis respektive eine Zoe-polis, eine genuine Stadt der Lebenden, gegenübergestellt wird. Erst diese Konfrontation verdeutlicht die implizite Einseitigkeit des Terminus Nekropolis, denn die Stadt der Toten wird gleichermaßen von den Lebenden bevölkert, wie auch die Biospolis oder Zoepolis von den Toten infiltriert wird. Der Versuch einer sauberen Trennung führt zwangsläufig zum unangenehmen Beigeschmack einer Ignoranz des Offensichtlichen. Dass sich dergleichen Trennungsvorstellungen indes tief im Bewusstsein verankert haben, zeigt sich auch bei Ruetz, der auf seinen Fotografien von Totenstädten keine lebenden Menschen ablichtete und damit die Annahme einer intendierten Separierung von Toten und Lebenden in selbstverständlicher Manier bildlich umgesetzt hat.

Das Bewusstsein von der Ubiquität der Toten mag ein unwohles Gefühl evozieren oder demütig machen im Angesicht dessen, wer vor uns war und nach uns kommen mag. Die Toten, die vor uns die Lebenden waren, begleiten uns auf Schritt und Tritt, nicht allein als historische Reminiszenzen, sondern konkret in Form ihrer Überreste. Dieses Verständnis der Überzahl muss nicht zwangsläufig zu einem verstärkten Respekt gegenüber den Toten führen, doch mag es dazu beitragen, sich zu vergegenwärtigen, dass die Verstorbenen eine gewichtige Kategorie darstellen, die sich eben nicht nur als Bewusstsein von früheren Lebenden, sondern von jetzigen Toten manifestieren könnte. Eine solche Bedeutung lässt sich nun auch in räumlichen Strukturen erwarten und führt uns zurück zu der Frage, welchen Stellenwert den Topoi des Todes in unserer Gesellschaft eingeräumt wird. Thomas Macho und Kristin Marek betonten bereits 2007 eine „neue Sichtbarkeit des Todes“ in den westlichen Kulturen und verweisen in diesem Kontext auf eine zunehmende Beschäftigung mit dem Sterben in den vergangenen Jahrzehnten (2007: 9). Dieser Aussage ist beizupflichten, aber es lohnt sich, die neue Ausdrucksweise näher zu betrachten. Wenn eine „neue Sichtbarkeit“ konstatiert wird, so ist überlegenswert, was wir sehen, wenn wir den Tod und die Toten betrachten, und wie wir den Umgang mit dem Tod selbst darstellen. Ein homogenes Bild vom Tod ist kaum denkbar, zu sehr ist es von persönlichen Erfahrungen beeinflusst, wobei den individuellen Ausprägungen der Todesvorstellungen Muster gegenübergestellt werden können, die von Religion oder Medien im kollektiven Bewusstsein implementiert werden. Die Sichtbarkeit des Todes fällt somit stark unterschiedlich aus. Das Sehen des Todes bedeutet zudem nicht das Sehen der Sterbenden und Verstorbenen, und der Zustand des Todes ist nicht gleichzusetzen mit dem Vorgang des Sterbens. Verweise auf menschliche Leerstände können nur bedingt als Berührungspunkte zum Prozess des Sterbens herhalten. Der Tod ist der Zustand des Fortseins, das Sterben der Prozess des Fortgehens und in dieser Funktion von biologischen und vielfach intensiven emotionalen Zuständen gekennzeichnet. Starb ein Mensch früher oftmals im Kreis seiner Angehörigen und im vertrauten Rahmen seiner eigenen Wohnstätte, so erfolgt das Sterben heutzutage vielfach im Krankenhaus oder Hospiz. Damit geht der direkte Kontakt von Lebenden zu Sterbenden nicht selten verloren. Die neue Sichtbarkeit des Todes ist somit primär eine neue Beschäftigung mit der dem Sterbeprozess nachfolgenden Leere. Der Prozess des Sterbens selbst bleibt den meisten Menschen weiterhin verschlossen. Nekropolis bedeutet damit auch, dass es notwendig ist, die Spuren des Sterbens separat von den Spuren des Todes als nachfolgendem Zustand bei einer Betrachtung der urbanen Strukturen zu berücksichtigen.

Obgleich der erstarkenden Beschäftigung mit dem Tod in den letzten Jahrzehnten, existieren zum Teil erhebliche Forschungsdesiderate, wenn es um soziale oder räumliche Elemente des Todes insbesondere aus historischer Perspektive geht. Dies betrifft Personengruppen wie die Leichenfrauen in der Moderne, Tätigkeitsfelder oder Institutionen. Tod und Sterben – so scheint es – stellen in den Geschichtswissenschaften ein Themenfeld dar, das eher den Kulturwissenschaften zugewiesen wird. Wenn allerdings der Ägyptologe Jan Assmann vom Tod als „Kulturgenerator“ spricht und damit das innovative Potenzial vom Bewusstsein des Lebensendes meint, so wird deutlich, welche Relevanz dem Sterben auch historisch betrachtet zukommt (Assmann 2000: 14). Der Tod war und ist vielfach die große Triebfeder kulturellen Schaffens.

Gegen eine intensive Auseinandersetzung mit der Thematik wirken womöglich Ängste und Unsicherheiten gleichermaßen wie auch fortbestehende Tabus. Der ästhetisch ansprechende Leichnam einer Tatort-Folge im abendlichen Fernsehprogramm ähnelt in der Regel eben nicht den tatsächlichen Todeszuständen; ebenso wenig wie das filmisch dargestellte Sterben sich mit dem tatsächlichen Übergangsprozess vom Leben in den Tod deckt.

Die Toten sind zwar in der Überzahl, doch sind sie zugleich die schwächsten Mitglieder der Gesellschaft, die den Lebenden „wehrlos“ ausgeliefert sind, darauf hat der Historiker Karl Schlögel hingewiesen (2005: 256). Die Art und Weise, wie die Lebenden die Verstorbenen behandeln und ihrer gedenken, liefert auch eine Erkenntnis darüber, wie sich die Lebenden als Individuen und ihr soziales Gemeinwesen mit einem historischen Bewusstsein positionieren (ebd.: 255). Topoi des Todes sind nach dieser Auffassung auch Marker einer Empathie, die sich bewusst auf die schwächsten Mitglieder der Gesellschaft konzentriert und von einem generellen Wert der menschlichen Spezies ausgeht.

4. Raum für die Toten und Raum für die Lebenden

Ob dem Tod und den Verstorbenen hingegen ein Raum im Umfeld der Lebenden zugestanden wird, hängt von den Lesarten ab, die zu den unterschiedlichen Zeiten den Umstand des Todes begleitet haben. Nicht allein in den vormodernen Zeiten der Pest, der Cholera im 19. oder Covid-19 im 21. Jahrhundert – dann aber in ausgeprägter Form – wandelten sich Wohnquartiere zu markanten Orten des Sterbens. Dies wird insbesondere an Dokumenten über die Große Pest in London von 1665/66 ablesbar, als Quarantänemaßnahmen für Wohnhäuser verordnet wurden, sobald ein Krankheitsfall aufgetreten war (Potter 2019: 77). Die Anordnung zwang gesunde und kranke Personen zu einem gemeinsamen Ausharren – ein Umstand, der nicht selten ganze Familien auslöschte. Von außen bewacht und deutlich sichtbar markiert, wurden diese Wohnhäuser zu Orten des Todes innerhalb der Gemeinschaft der Lebenden (Sperry 2018). Frappierend ist in diesem Zusammenhang, dass bei der jüngst zurückliegenden Covid-19-Pandemie zumindest in der medialen Öffentlichkeit kaum tiefergehende historische Bezüge angestellt wurden. Obgleich die Pest vielfach thematisiert wurde, fanden weder Parallelen bei staatlichen Restriktionen noch die Hintergründe der Anfeindungen gegenüber bestimmten Bevölkerungsgruppen aus den historischen Beispielen Aufnahme in den öffentlichen Diskurs.

Seuchenfriedhöfe wurden früh vor den Toren der Stadt angelegt, um durch die Distanz zwischen Toten und Lebenden eine Sicherheit für Letztere zu generieren. Ab Ende des 18. Jahrhunderts wurden dann innerstädtische Begräbnisplätze geschlossen und neue Friedhöfe generell extra muros errichtet – nun nicht mehr unter den Vorzeichen einer drohenden Seuche, sondern als reguläres, sanitätspolizeiliches Eingreifen in traditionelle Praktiken. Die Verstorbenen wurden derart aus dem unmittelbaren Bereich der Lebenden ausgelagert (Fischer 2001: 9, 11 f.).

Dass die Toten aber auch eines Raumes bedurften, der ihnen einen grundlegenden Schutz gewährte, wurde spätestens mit der gesetzlichen Einführung von Bestattungsfristen im späten 18. Jahrhundert in Preußen zu einer vielerorts erhobenen Forderung. Die Sicherheit des Todes wurde damals mit zeitlicher Dauer korreliert, indem einzig der Verwesung vertraut wurde, den Tod präzise anzuzeigen. Da die Verwesung Zeit bedarf, wurde in diesem Kontext auch Raum entscheidend. Denn spätestens jetzt benötigten die Verstorbenen einen Platz, an dem sie mehrere Tage aufbewahrt und auf sichere Todeszeichen hin beobachtet werden konnten. Damit wurde den vorgeblichen Scheintoten explizit in Form von Leichenhäusern ein innovativer, da neuer Raum geschaffen (Kreibig 2022).

Damals wie heute spielte Raum im Sinne konkreter Orte, verbunden aber auch mit expliziter Zeitlichkeit im Sinne einer angestrebten Permanenz, eine erhebliche Rolle. Bereits im 19. Jahrhundert gerieten zahlreiche Kirchengemeinden im Zuge der Industrialisierung unter Druck: Der städtische Grund wurde zunehmend teurer, was auch die Anlage neuer Friedhöfe betraf, die verstärkt auf günstigerem Boden errichtet werden mussten. Der Raum der Toten wurde unter diesen Vorzeichen zunehmend zum Raum der Lebenden, und die Distanz zwischen beiden Gruppen wurde erweitert.

5. Die Lebenden sind die Toten von morgen

In der Gegenwart scheint das traditionelle Konzept der (christlichen) Friedhöfe sukzessive an gesellschaftlicher Bedeutung zu verlieren. Aufgrund des demografischen Wandels und einer Ablösung althergebrachter Vorstellungen in Bezug auf das Bestattungswesen, nimmt die Körperbestattung in Europa graduell ab, und ganze Friedhofsareale werden zu Brachland. Markierte Grablegungen wandeln sich zu anonymen Streuaschegräbern, die nicht mehr auf die individuellen Todesfälle verweisen. Ein solcher Trend kann nicht allein mit den höheren Kosten von Körperbestattungen gegenüber der Kremation begründet werden, sondern hat auch mit sozialen Veränderungen vor dem Hintergrund der Globalisierung zu tun, die dazu beiträgt, dass Gräber durch die weit verstreut lebenden Angehörigen nicht mehr gepflegt werden können (Kaiser 2021: 33-93).

Bereits im 19., dann aber verstärkt im 20. Jahrhundert mussten Begräbnisplätze Straßenbauprojekten weichen, wurden diese zu Parks und wirtschaftlichen Nutzflächen transformiert oder während der Kriege vielfach in ihrer Bausubstanz beschädigt. Die markantesten Topoi des Todes, die Friedhöfe, sind damit erheblichen Veränderungen unterworfen. Pietät als Anspruch eines angemessenen Umgangs mit den Verstorbenen, droht in dieser Gemengelage zur Verhandlungsmasse zu werden. Sie ist es jedoch zugleich, die nicht allein das individuelle und kollektive Verhalten der Lebenden gegenüber den Verstorbenen bestimmt, sondern auch, welcher Raum den Toten zugestanden wird. Die Erforschung des Todes bedeutet daher in erster Linie eine Auseinandersetzung mit dem Dasein und mit den gesellschaftlichen Vorstellungen über das „richtige“ Leben und Sterben, die in einer Gesellschaft existieren. Die Möglichkeit einer Koexistenz zwischen Lebenden und Toten durch die Nutzung der Friedhöfe als Ruheorte, von der Schlögel spricht (2005: 255), ist eine hoffnungsvolle, antizipierende Betrachtung dessen, was uns allen bevorsteht. Auch dies ist eine Erklärung für einen pietätvollen Umgang mit verstorbenen Menschen. Die Pietät erinnert uns an das gewesene Individuum als Mitglied der menschlichen Spezies, und der Respekt, den wir einem toten Körper entgegenbringen, spiegelt die Hoffnung, später ebenso behandelt zu werden (Preuß 2015: 202 f.).

6. Deutungsversuche

Topoi des Todes wurden vielfach mit spezifischen Gefühlszusammen­hängen assoziiert oder sie werden als besondere Orte mit besonderen Qualitäten interpretiert. Bereits Michel Foucault betonte, dass der Friedhof per se ein „anderer Ort“, eine Heterotopie sei, die befähigt ist, Irritation in der Gesellschaft auszulösen (1993: 41 f.). Die Einfachheit des von ihm vorgeschlagenen Theorieansatzes führte dazu, dass in der Folge zahlreiche Orte als Heterotopien klassifiziert wurden, darunter auch weitere Topoi des Todes wie Hospize (Lindner 2016: 87) oder Leichenhäuser (Kreibig 2022: 36). Beide Konzepte fokussieren auf die Übergangssituation in den Tod und grenzen sich dergestalt von Friedhöfen oder Erinnerungszeichen maßgeblich ab. Heterotopien sind interessant, weil sie die gesellschaftlichen Machtstrukturen explizit fokussieren, die anhand des Raumes nachvollzogen werden.

Andere Forschende haben sich den Begräbnisplätzen mit einer Interpretation als Atopie zugewandt, womit der Verlust der ursprünglichen Bedeutungen und Funktionen der Orte in gesellschaftlichen Zusammenhängen gemeint ist (Happe 2016). Hier ist bereits angemahnt, dass die Transformation von Friedhöfen zu Lokalitäten mit gänzlich anderen Nutzungsoptionen zu einem inhaltlichen Verlust auch historischer Zusammenhänge zu führen droht. Folgt man diesem Gedanken, so scheint eine Veränderung einstiger kulturell und religiös aufgeladener Orte des Todes hin zu einer vollständigen Negierung ihrer ursprünglichen Signifikanz denkbar. Dann würden wir uns im Bereich der Nicht-Orte gemäß einer Definition des Ethnologen Marc Augé (2014) bewegen, der damit Orte charakterisiert, die über keine eigenständige Geschichte oder Identität verfügen. Wie Topoi des Todes zukünftig interpretiert werden können, hängt somit maßgeblich davon ab, welche Relevanz wir ihnen zukommen lassen. Die Bedeutung ist dabei eng verwoben mit Emotionen, die wir diesen Orten zuschreiben.

Tod und Sterben können Gefühle wie Angst oder Schauder auslösen. Anthony Vidler geht dem unter anderem von Edmund Burke verwendeten Begriff des Erhabenen nach, indem er seine Nähe zum Schrecken – die bereits Burke herausstellte – im Unheimlichen als eine „domestizierte Version des absoluten Schreckens“ deutet (Vidler 2002: 21). Seit dem 18. Jahrhundert existiert eine enge Verbundenheit von Vorstellungen des Unheimlichen und der Architektur (ebd.: 13). Wenn Vidler nunmehr bestimmte Gebäude als unheimlich beschreibt, dann nicht, weil sie selbst solche Eigenschaften besäßen, sondern weil sie „aus historischen oder kulturellen Gründen Repräsentationen der Entfremdung darstellen“ (ebd.: 31). Und was ist uns fremder geworden in der heutigen Zeit als die Toten? Viele Menschen erleben den Sterbeprozess nicht mehr aus eigener Erfahrung, sondern als Bericht aus dritter, oftmals pflegerischer oder ärztlicher, Hand. Die Gefahr einer solchen Distanzierung beinhaltet die dann unvermittelt erscheinende Konfrontation mit dem zuvor Verdrängten. Thomas Macho sieht im Bemühen der Integration der Toten eine Möglichkeit zur Absicherung der Lebenden gegen die Verstorbenen (1987: 299). Indem eine Nähe zum Fremden oder Fremdgewordenen hergestellt wird, kann dieses zum Teil eingehegt werden und verliert dergestalt sein Bedrohungspotenzial. Orte, die mit Tod und Sterben korreliert werden, sind uns heutzutage deshalb vielfach unheimlich, da sie uns ebenso fremd geworden sind wie die sterbenden Leiber und die toten Körper. Ihre einstmals apotropäische Einbeziehung in die Gemeinschaft der Lebenden ist einer weitgehenden Ausgrenzung gewichen.

Seit geraumer Zeit werden hingegen im Zuge des sogenannten Dark Tourism immer neue Stätten aufgetan, die aufgrund ihres nominell unheimlichen Charakters Aufmerksamkeit erregen. Angebliche Spukhäuser gehören ebenso dazu wie verlassene Sanatorien oder Krankenhäuser. Sie alle eint vorgeblich eine in besonderer Weise vom Tod gezeichnete Historie. Derlei Aktivitäten können aber nicht als Anzeichen einer intensivierten Auseinandersetzung mit dem tatsächlichen Tod oder Sterben interpretiert werden.

7. Fazit

Die Topoi des Todes, die hier behandelt wurden, sind wie alle Orte mit Gefühlen verbunden. In diesem Fall sind die Emotionen vielfach – wenn auch nicht immer – spezifischer Natur und werden mit Vorstellungen der Unsicherheit, des Unheimlichen, der Angst, aber auch des erregenden Schauderns assoziiert. Die Genese der Gefühle, die im Zusammenhang mit den Topoi des Todes festgestellt werden, kann im Einzelfall sehr genau anhand historischer Prozesse nachvollzogen werden. Als in den mitteleuropäischen Gesellschaften des 19. Jahrhunderts begonnen wurde, den Tod und die Toten aus hygienischen Gründen aus den vertrauten Kontexten der Lebenden herauszulösen, indem nicht nur eine räumliche, sondern auch eine intensivierte emotionale Distanz zu den körperlichen Verfallsprozessen geschaffen wurde, wurden gleichzeitig Zustände des Unheimlichen und Fremden evoziert. Die Toten wurden zu Fremden, denen man auf eine neue Weise begegnen musste (Kreibig 2022: 404-410, 443). Nicht erst seitdem übertrug sich dieser Status auch auf die Orte, die mit den Leichnamen in Verbindung standen. Diese Erkenntnis hat auch Einfluss auf die Forschung zum (urbanen) Sterben. So scheint sich bei aller neuen Sichtbarkeit des Todes in unserer Gesellschaft die Distanz gegenüber den Toten auch auf eine Beschäftigung mit der Thematik übertragen zu haben. Insbesondere aus der Perspektive der Geschichtswissenschaften ergeben sich damit Aspekte, die zu einer Diskussion einladen sollen: Erstens behaupte ich, dass historische Erkenntnisse im Umgang mit dem Tod bisher nur in geringem Maße auf aktuelle Verhältnisse übertragen werden. Zweitens scheint die wirtschaftliche und politische Dimension thanatologischer Aspekte innerhalb der Forschung kaum angemessen erfasst zu werden. Der Mehrwert einer Analyse historischer Todesgeschichte für andere Fachdisziplinen wurde aus diesem Grunde noch nicht realisiert. Dies bedeutet auch, dass mögliche arbeitstechnische und inhaltliche Schwierigkeiten beim Versuch, sich die Forschungsdesiderate zu erschließen, erst noch erkannt werden müssen.

Der lang anhaltende Prozess einer Ausweisung des Todes aus dem Bereich der Lebenden, insbesondere aus den Städten, ist in den letzten Jahrzehnten einer neuen Beschäftigung gewichen. Diese rekurriert jedoch primär auf eine Auseinandersetzung mit Vorstellungen über den Tod und weniger mit den biologischen Realitäten. In diesem Zusammenhang werden Partizipationsforderungen lauter, das eigene Sterben und die Darstellung des eigenen Todes souverän zu gestalten. Gleichzeitig führen die veränderten demografischen und kulturellen Konditionen zum Wandel traditioneller Topoi des Todes, die nicht selten als Verlust wahrgenommen werden. Ein neues Aushandeln über und ein Recht auf Präsenz von Tod und Sterben – nicht nur in den Städten – hat begonnen und verlangt nach einer gesellschaftlichen Debatte darüber, wie wir zukünftig die Sterbenden behandeln und der Verstorbenen gedenken wollen und wie weit der Tod generell bewusster Bestandteil unseres Lebens sein soll.