Nina Kreibig untersucht in ihrer Dissertation die Entstehung und Entwicklung der Berliner Leichenhäuser im 19. Jahrhundert. Das Thema ist nicht nur medizinhistorisch, sondern auch aus sozialpsychologischer Sicht sehr interessant – vor allem da Leichenhäuser ein bisher vernachlässigter Aspekt der Forschung zur Sepulkralkultur in der Stadt sind. Bisher haben sich Autor*innen mit dem Fokus Berlin noch nicht an dieses Thema herangewagt. Kreibig leistet mit ihren Ausführungen eine erste umfassende stadtgeschichtliche Analyse zur Entstehung und Bedeutung von Leichenhäusern in dieser Stadt.
Im 19. Jahrhundert entstand die Idee, in Berlin Leichenhäuser zu errichten. Dies geschah vor dem Hintergrund, dass die Medizin zur damaligen Zeit noch nicht über die diagnostischen Instrumente verfügte, um eine exakte Feststellung des Todes bei einem Menschen vornehmen zu können. Die Unsicherheit der Ärzt*innen bei der Stellung einer exakten Todesdiagnose war groß. Im Grunde genommen wird unter Medizinethiker*innen noch bis heute diskutiert, wann ein Mensch tatsächlich tot ist, insbesondere bezogen auf den Hirntod (Russegger 1999).
Die Berliner Historikerin Kreibig gliedert ihre Studie in drei große Abschnitte, die wiederum in mehrere Kapitel unterteilt sind. Nach einem einleitenden Kapitel beschreibt sie den seit dem 18. Jahrhundert stattgefundenen medizinischen, sozialen und religiösen Wandel der Wahrnehmung von Tod in Mitteleuropa. Die Verfasserin beschreibt dabei den Zeitraum zwischen 1750 und 1850 mit dem Begriff der Schwellenzeit. In der Zeit der Aufklärung – im Rahmen der Säkularisierung – entstanden veränderte Sichtweisen auf Leben und Tod. Dies hatte natürlich auch Auswirkungen auf den Umgang mit dem Tod beziehungsweise mit dem sogenannten Scheintod in der Medizin, aber auch in öffentlichen Debatten (Patak 1967; Rüve 2008; Johannsmeyer 2024: 32 f.).
Im dritten Kapitel beschreibt Kreibig vor allem, wie die damalige Gesellschaft Mittel und Wege suchte, den im 18. und 19. Jahrhundert vor allem im Bürgertum verbreiteten Angst zu begegnen, aufgrund einer medizinischen Fehldiagnose „scheintot“ – also lebendig begraben zu werden. Diese Angst führte zur Entwicklung von Weckapparaten oder einer ständigen Bewachung der (Schein-)Toten. Eine weitere Maßnahme war die Errichtung sogenannter Leichenhäuser, in denen Tote vor ihrer Bestattung aufgebahrt wurden. Diese Einrichtungen gab es als pragmatische Lösung zunächst nur in Großstädten. Insgesamt ist hervorzuheben, dass Kreibigs Studie die Besonderheit und Bedeutung der Leichenhallen hervorhebt, die eine nicht-medizinische Lösung für ein medizinisches Problem waren. Letztlich stellten sie eine Möglichkeit dar, mit den Schwierigkeit einer genauen Todesdiagnose seitens der Medizin umzugehen.
Am Beispiel Berlins und der dort stetig zunehmenden Errichtung von Leichenhallen lässt sich das gut nachvollziehen. Die Autorin analysiert den Wandel der Leichenhallennutzung in Bezug auf die Intentionen der verschiedenen Institutionen beziehungsweise Akteur*innen zwischen 1794 und 1871. Kreibig geht der Frage nach, warum es sukzessive zu immer weiteren Leichenhausbauten kam und welche gesellschaftlichen Gründe dafür ausschlaggebend waren.
Sie greift damit einen Aspekt der Stadt- und Medizingeschichte auf, der bisher vernachlässigt wurde (Groß et al. 2007). So wurden unter kulturellen und psychologischen Aspekten bisher vor allem Suizid, Totenmasken und Totenfotografie wissenschaftlich untersucht. Die Entstehung und Bedeutung von Leichenhallen wurde in der deutschsprachigen Literatur bisher jedoch weder medizinhistorisch und erst recht nicht im städtebaulich-architektonischen Kontext beleuchtet (Macho 2017; Richter 2008: 61 ff.; Benkel/Meitzler 2016: 117 ff.). Der Architekt Stefan Fayans (1907) stellte eine erste städtebaulich-architektonische Studie vor, in der er verschiedene Typen von Leichenhallen miteinander verglich. Dabei konzentrierte er sich nicht explizit auf Berlin. Die Berliner Leichenhäuser werden interessanterweise in der Literatur bis heute kaum erwähnt (Ausnahmen bilden vorherige kleinere Veröffentlichungen Kreibigs). Die Autorin stellt in ihrer Arbeit erstmals sämtliche 29 Leichenhäuser in den heutigen Berliner Innenstadtbezirken vor. Für ihre Arbeit hat sie umfangreiches Quellenmaterial ausgewertet. Wichtig war ihr, in ihren Ausführungen den psychologischen und sozialen Hintergrund sowie die gesellschaftliche Bedeutung der neuen Institution Leichenhaus hervorzuheben.
Kreibig beschreibt ausführlich, welche veränderte Funktion Leichenhäuser im Laufe des 19. Jahrhunderts unter dem Einfluss hygienischer und sanitärer Überlegungen erhielten: Da die Städte immer größer wurden, fürchteten die Bürger*innen aufgrund des zunehmend verdichteten Stadtraums und der unzureichenden Wohnverhältnisse eine Zunahme von Infektionskrankheiten. Sie wollten sich nicht anstecken, wenn Verstorbene – wie üblich – zunächst zu Hause aufgebahrt wurden. So erhielten die Leichenhäuser nach und nach eine hygienische Bedeutung, indem sie als Aufbahrungsstätte dienten sowie als Räume, in denen Trauerfeiern stattfinden konnten. Kreibig geht auch der Frage nach, inwieweit sich die Nutzung der Leichenhäuser durch soziale Strukturen veränderte und welche Bedeutung die Bauten für die damalige Stadtgesellschaft hatten.
Wissenschaftstheoretisch stützt sich die Autorin auf die Arbeit Philippe Ariès (1980). Dessen These von der Verdrängung des Todes seit dem 19. Jahrhundert bildet die Grundlage ihrer Ausführungen. Bemerkenswert ist die vielfältige Auswertung unterschiedlicher Archivalien, wobei der Schwerpunkt auf Akten des Landesarchivs Berlin und des Geheimen Preußischen Staatsarchivs liegt. Kreibig wertet aber auch zahlreiche zusätzliche Bauakten, Archivbestände von Kirchengemeinden und sogar die Tagespresse aus dem 19. Jahrhundert aus (Greiner 2023).
Die Dissertation bietet eine umfassende Analyse der Entstehungs- und Kulturgeschichte von Berliner Leichenhäusern, wobei hier die stadtpolitischen und gesellschaftlichen Akteur*innen im Mittelpunkt der Betrachtung stehen. Aufgrund des großen Umfangs der Darstellung kann es Leser*innen mitunter schwerfallen, den roten Faden im Blick zu behalten. Die über 500 Seiten starke Arbeit ist bei aller fundierten Recherche und der ausführlichen Einführungen in Thema, Forschungsstand und Methodik teilweise doch mit Details überfrachtet. Dennoch bleibt festzuhalten, dass die gründliche historische Rekonstruktion dieser in der historischen Urbanistik oft vernachlässigten Infrastruktur einen wertvollen Beitrag zur Sozial-, Medizin- und Kulturgeschichte Berlins im 19. Jahrhundert leistet. Kreibig schließt damit eine Lücke in der Berliner Stadtgeschichte. Und so liegt im Detailreichtum der Arbeit auch durchaus eine besondere Stärke, die sie zu einem Standardwerk der Stadtgeschichte und der Sepulkralkultur machen könnte.