Der vorliegende Band entspricht dem momentan wachsenden Interesse an der DDR-Vergangenheit in der bundesdeutschen Geschichtskultur, nicht zuletzt, um die Marginalisierung der Ostdeutschen und des nicht mehr existierenden Staates in der nationalen Meistererzählung nach 1990 zu relativieren. Obwohl die Politisierung des allseits bekannten Altstadtverfalls in der DDR ein Kernthema des Bandes ist, stellt er wissenschaftlich eine vollkommen neue Perspektive dar. Die Wendeliteratur hat die Agency des Protests „von unten“ entgegen der Agency westlicher Politik „von oben“ in vieler Hinsicht bereits gut beleuchtet (für ein Standardwerk siehe z. B. Maier 1999; für eine einschlägige Sammlung siehe Jarausch/Gransow 1991). Doch keinesfalls gilt das für die urbane Bewegung der DDR auf dem Weg zur sogenannten Wiedervereinigung, die offensichtlich elementarer Bestandteil der dortigen Protestkultur war. Verfall und Erhalt ostdeutscher Städte sind bis jetzt weitgehend separate Themen, getrennt vom Aktivismus der friedlichen Revolution. Zu Unrecht, wie dieses Buch erfolgreich verdeutlicht.
Zugleich ergänzt das Buch die historiographischen Zusammenkünfte von Heritage Activism und Bewegungsforschung in der Historisierung der 1970er-Jahre als Strukturbruch westlich-industrieller Zeit (siehe z. B. Baumeister/Schott/Bonomo 2017). Hingegen macht es deutlich, dass auch diesbezüglich eine grenzübertretende Diskursanalyse Sinn macht. Das europäische Denkmalschutzjahr von 1975, in mancher Hinsicht eine Reaktion auf ausufernde Stadterneuerung im kapitalistischen Westen, genoss klare Resonanz in der DDR des Ostblocks. Besonders spannend sind hierbei die Parallelen im stadtpolitischen Umdenken hin zum Postfordismus, was im Kontext eines real existierenden Sozialismus vielleicht seltsam klingen mag. Dabei wird durch die Beiträge klar, dass die Veränderungen im Diskurs zum Denkmalschutz und der damit zusammenhängenden Geschichtskultur die Grenze zwischen Ost und West in verschiedener Weise durchdrangen. Dabei spielte auch die Wissenschaft eine bedeutsame Rolle. Diese transfergeschichtlichen Ansätze sind sinnvoll und bezüglich beidseitiger Wertewandel auch jenseits der Stadtgeschichte noch ausbaufähig.
Der Band bildet ein umfangreiches und öffentlich gefördertes Forschungsprojekt ab, das sich aus inter- und transdisziplinären Feldern diverser deutscher Universitäten zusammensetzt. Die Autor_innen stammen aus Bereichen wie Architektur, Geschichte, Kulturwissenschaft und Geographie, insbesondere der historischen Urbanistik beziehungsweise Stadtgeschichte, der Raum-, Stadt- und Regionalplanung und des Städtebaus, aus Denkmalschutz und Kunstgeschichte sowie aus archivarischen und kuratorischen Tätigkeiten. Diese Pluralität schlägt sich auch in den thematischen Ansätzen der einzelnen Beiträge des umfangreichen Bandes nieder. Von Ostalgie ist in dieser Rückschau wenig zu spüren, wobei auch kein umfassend kritisches Bild der DDR erzeugt wird. Erwähnenswert ist in dieser Hinsicht jedoch die Diagnose, dass eine wichtige Komponente der temporären „Stadtwende“ von 1989/90 nach dem 3. Oktober unvollendet blieb: „die Stadt der Runden Tische“ mit „der ökologischen und gemeinwohlorientierten Ausrichtung gesellschaftlicher Zukünfte“ (Breßler et al. 2022a: 11).
Die hohe Anzahl von Beiträgen ist beeindruckend, führt jedoch zu einigen inhaltlichen und analytischen Wiederholungen, die eventuell durch eine Zusammenführung oder engere Kooperation von einzelnen Autor_innen hätten komprimiert werden können. Nach der Einleitung ist der Band in sechs Themenbereiche unterteilt, die wiederum mit verschiedenen Essays und Fallstudien bestückt sind: Politik und Stadtproduktion, Altstadt und Erneuerung, Engagement und Aushandlung, Planung und Diskurs, Bürgerschaft und Modelle sowie letztlich Dokumentation und Dialog. Max Welch Guerra (2022) stellt zu Beginn klar, dass nicht nur die städtische Planung im Westen auf Industrie und Wachstum abzielte, sondern auch das ostdeutsche Modell. Die Krise dieses Wachstumsmodells muss von daher als gesamtdeutsches beziehungsweise -europäisches Problem in der historischen Urbanistik betrachtet werden. Zudem waren linke Antworten auf die Stadtkrise kein exklusives Phänomen des Ostens: Das kommunistische Paradebeispiel von Bologna zog in den 1970ern internationale Experten an. Im Anschluss war die Kraft des neoliberalen Urbanismus durch den abrupten Umbruch von 1990 im Osten zwar wuchtiger, dennoch konnten viele alte Gebäude der ehemaligen DDR weitgehend gerettet werden, während es im Westen oft schon zu spät war.
Harald Engler beschäftigt sich im folgenden Kapitel mit dieser „beschleunigten postindustriellen Gesellschaftsentwicklung“ (2022: 38). Der Verfall von Wohnsubstanz war ein Faktor in der Delegitimierung des DDR-Regimes, nicht zuletzt, da dieser nicht vor den Bewohner_innen im Alltag kaschiert werden konnte: Es mangelte an Ressourcen und Arbeitskräften, während der Plattenbau über lange Zeit im Fokus stand. Im zivilgesellschaftlichen Kontext stellt Engler heraus, dass innerhalb der diversen Protestbewegungen zur Wende und Wiedervereinigung die Gruppen gegen den Altstadtverfall zwar nicht ausschlaggebend waren, aber dennoch als „Teil der Gesamtbewegung“ zu begreifen seien (ebd.: 43). Typisch für urbane Bewegungen, waren diese Gruppen höchst lokalisiert und nur begrenzt vernetzt. Nach der Wende löste sich diese Gesamtbewegung weitgehend auf. Zudem verschob sich der Fokus thematisch: „Jetzt standen neue stadtpolitische Fronten – gegen Gentrifizierung, gegen profitorientierte Stadtentwicklung oder etwa gegen die Musealisierung von historischen Stadtbereichen – auf der Agenda […].“ (Ebd.: 47) Engler diagnostiziert kolonialistische Tendenzen nicht nur in der Ökonomisierung ostdeutscher Städte durch die absolute Integration in die Bundesrepublik, sondern quasi auch in der gesamtdeutschen Erinnerungskultur, wo die hier betrachteten Akteur_innen bisher fast bedeutungslos sind.
Andreas Butter beschreibt die Ideengeschichte des historischen Stadtbilds in der DDR und widmet sich den daraus resultierenden Handlungsmustern. „Auferstanden aus Ruinen und der Zukunft zugewandt“, wie es in der Nationalhymne der DDR heißt, spiegelte eine materielle Notwendigkeit sowie ein ideologisches Leitbild in der offiziellen Nachkriegsplanung wider: Man brauchte Baustoffe aus den Abrissgebieten für den Aufbau und wollte sich gleichzeitig als neues Deutschland von nationalen Traditionen abheben. Dennoch gab es keinen totalen Bruch – die Deutsche Heimat und ihre Geschichte wurde nun kommunistisch interpretiert. Zwar herrschte nirgends in der DDR der Anspruch, die Städte gemäß des Vorkriegszustands wiederaufzubauen, doch trafen radikale Abrissmaßnahmen und realisierte Großprojekte nicht selten auf Kritik oder gegenteilige Sanierungen. So entsprang eher implizit eine Planungskultur der „Koexistenz zwischen Alt und Neu“ (Butter 2022: 59). Hinzu kam ein historischer Wertewandel, der eine wachsende Schätzung der Altstadt, oder zumindest historistischer Fassaden, und zunehmend auch der Gründerzeitarchitektur beinhaltete. Letztere verstärkte sich bis zur Wende, teilweise einhergehend mit der kompetitiven Aneignung preußischer Vergangenheit durch den Staat in den 1980er-Jahren und wohl auch mit einer lokalen Entwicklung bildungsbürgerlicher Milieus, wie es begrenzt zum Beispiel in Prenzlauer Berg der Fall war. Butter weist letztlich auf ortspezifische Unterschiede innerhalb der DDR hin, die Stadthistoriker_innen methodisch bedenken sollten, wenn es um derartige Erfolgsgeschichten von Stadtentwicklung und Denkmalschutz geht.
Harald Keglers Fallstudie zu Greifswald (Kegler 2022) bedient diese Perspektive. Greifswald war 1970 ein Pilotprojekt der Erneuerungsstrategie in der DDR. Die Stadt wurde im Zweiten Weltkrieg nicht stark zerbombt und sollte nun ein historisches Innovationszentrum werden, wo alt und neu nicht im Widerspruch miteinander standen. Dabei spielte ein internationaler Diskurswandel hinsichtlich des zunehmend als unwirtlich empfundenen Nachkriegsmodernismus eine wichtige Rolle. In Greifswald, wie in vielen anderen Städten auf der Welt, kam es bei dieser Kritik und Verwirklichung neuer Stadtbilder nicht nur auf Politik und Wissenschaft an, sondern auch auf die Zivilgesellschaft: In den 1980er-Jahren kämpfte die Greifswalder Altstadtinitiative erfolgreich für den Abrissstop.
Jannik Noeske erklärt, dass der Altstadtverfall sich zur Ikonografie der Wende entwickelte. In anderen Worten: Die Stadt war nicht nur physische Arena und wirtschaftliches Objekt der Proteste, sondern trug elementar zu ihrer Symbolik bei. Dabei sollte man im Westen nicht vergessen: „Tatsächlich war die DDR bis zu ihrem Ende ein Land der Altbauten.“ (Noeske 2022: 100) Dennoch wurden Hunderttausende Wohnungen abgerissen oder gesperrt, im ungefähren Einklang mit den neu gebauten. Staatliche Sanierungen fielen meist auf „volkseigene“ Mehrfamilienhäuser inklusive der Nachkriegsbauten, wobei der Wohnungsbau die begrenzten Ressourcen verschlang. Das Handwerk operierte vorwiegend in staatlichen Kooperativen, die in der Materialnutzung bevorzugt wurden. Letztlich verfiel ein Teil des privaten Bestands durch Leerstand. Nach der Wende blieb der Verfall in der deutschen Erinnerungskultur verankert.
Jana Breßler (2022) stellt fest, dass die innovative Stadtpolitik in der ostdeutschen Stadtwende von 1989/90 sich rechtlich und finanziell noch weiterhin auf die Entwicklungen der geeinten Republik auswirken sollte. Der Fachaustausch und Partnerschaften zwischen west- und ostdeutschen Städten zur behutsamen Stadterneuerung und Denkmalpflege intensivierten sich im Prozess der Wende, in der selbstverwaltende und partizipative Entwicklungen gestärkt wurden. Parallel wurden Soforthilfen für den Stadterhalt durch den Reisedevisenfond zur Verfügung gestellt. Der gesamtdeutsche Bundeshaushalt berücksichtigte dieses Problem direkt nach dem Mauerfall. Bereits im Sommer 1990, noch vor der offiziellen Wiedervereinigung, flossen Hunderte Millionen Deutsche Mark in Hunderte Orte der DDR. Anschließend gab es ein Sonderprogramm für den städtebaulichen Denkmalschutz. Weiterhin profitierten ostdeutsche Städte von neuen Fördersätzen durch Bund und Länder. Diese Förderungspolitik der Kommunen wurde auf das gesamte Bundesgebiet ausgeweitet, wodurch diese noch bis heute profitieren.
Julia Wigger (2022) gibt Einsicht in die aktivistische Dynamik zum Erhalt historischer Bausubstanz seit den 1980ern. Sie beginnt, dadurch eine Lücke in der Protestgeschichte zu schließen. Historiker_innen sozialer Bewegungen in Ost und West haben der urbanen Bewegung vergleichsweise wenig Aufmerksamkeit geschenkt, wobei es auch international keine Seltenheit war, dass Denkmalschutz als Framing für weitergehende gesellschaftspolitische Visionen fungierte. Zudem hat die Denkmalpflege als Protestobjekt die Kapazität, verschiedene Bewegungen und Organisationen zusammenzuführen (siehe z. B. Wicke 2018). Wigger verweist hierbei auf die in der DDR bestehenden Netzwerke von Kirche, Friedens- und Umweltaktivist_innen, mit denen sich lokale Aktivist_innen transurban vernetzen konnten. Analysen der begrenzten politischen Möglichkeitsstrukturen in der DDR, wie Kriminalisierung und staatliche beziehungsweise soziale Überwachung, nutzten der historischen Deutung der Arbeitsgruppen in ihrem Entstehen und Wirken. Der Anspruch auf eine partizipatorischere Stadtpolitik, der in den 1970ern im Westen deutlich sichtbar war, hat somit in der DDR eine noch stärkere Bedeutung erfahren. Im Wendeprozess fanden sich ostdeutsche Aktivist_innen im Dilemma: Westlich finanzierte Sanierung war erwünscht, die Privatisierung sozialistischer Eigentumsverhältnisse hingegen nicht.
Sven Kröbers Studie unterstreicht die Bedeutung von cross-movement mobilization, wobei die urbane Bewegung als Variante einer Umweltbewegung fungierte und die Gruppen, die sich seit den 1970ern für den Erhalt von Stadt und Umwelt einsetzten, Vorläuferinnen der großen Bürger_innenbewegungen von 1989/90 waren. Die Leipziger Volksbaukonferenz „von unten“ (Kröber 2022: 146) im Januar 1990 mit etwa 100 Teilnehmer_innen bildete demnach den Höhepunkt dieser Entwicklung. Schlüsselfiguren im Einsatz für die Bausubstanz Leipzigs kamen aus dem kreativen und kritischen Bildungsbürgertum, wie dem bereits 1945 gegründeten Kulturbund und dem Verband Bildender Künstler. Die Volksbaukonferenz war schließlich so resonant und erfolgreich, dass Gründerzeitviertel Leipzigs vom geplanten Abriss verschont blieben.
Der Band beleuchtet weitere wichtige Aktionsebenen: Kröber deutet auch auf die Rolle verschiedener Medien in der DDR hin, einschließlich einer filmischer Dokumentation des Stadtverfalls, die der öffentlichen Kritik ein Sprachrohr boten. Fridtjof Florian Dossins Beitrag zur Geschichte der sogenannten Ausbauwohnungen hebt die Relevanz von Medien hervor (Dossin 2022). Hierbei dreht es sich aber um konstruktive Aufforderungen, Anleitungen und Dokumentationen von Eigeninitiativen zur Modernisierung alter Wohnungen. Seit den 1970ern entwickelt, bot das Prinzip Ausbauwohnung DDR-Bürger_innen eine Chance, sich selbst durch staatliche beziehungsweise lokaladministrative Unterstützung sehr lebenswerten Wohnraum zu schaffen. Ein Netzwerk von institutionellen und ehrenamtlichen Gruppen entwickelte sich, wobei besonders die soziale Dimension von Reparaturstützpunkten und Ausgabestellen von notwendigen Materialien und Gerätschaften hervorgehoben werden soll. Inwiefern diese Mobilisierungen politisch gewirkt haben, bleibt in dem Kapitel jedoch offen.
In der DDR entfaltete sich das Thema Stadterneuerung zudem in Wissenschaft und Bildung, welche somit im urbanistischen Kontext als Teil der Protestkultur zu begreifen ist. So stellen Frank Peter Jäger und Holger Schmidt (2022) den Planungsstudiengang der Weimarer Hochschule für Architektur und Bauwesen (HAB) heraus. Bereits zu Beginn der 1970er durften sich die Weimarer Studierenden mit Denkmalpflege und Stadtrekonstruktion beschäftigen, und zwar nicht nur in der Theorie, sondern auch praktisch, zum Beispiel durch „Kommunale Praktika“ in bedrohten Stadtteilen und Altstädten, die gemeinsam mit Lehrenden untersucht wurden. Soziale Kontakte mit den Bewohner_innen waren dabei elementar. Die Abschlussarbeiten der Studierenden ab den 1970ern geben Aufschluss über die wachsende Kritik an der Planungspolitik. Die HAB gab zudem in den 1980er-Jahren eine kritische Zeitschrift heraus, in der der Stadtverfall thematisiert wurde. Die Autoren sind überzeugt, dass die Hochschule als treibender Akteur im kritischen Diskurs der Planungspraxis der DDR immer voraus war.
Dieser wissenschaftlichen Ebene widmet sich auch Wiebke Reinert (2022). Sie untermauert die Ambitionen des Bandes: Die Zeitgeschichte der Wende benötigt eine stadtgeschichtliche Dimension, wobei die kritische Wissensproduktion durch stadtsoziologische Studien in der späten DDR nicht außer Acht gelassen werden kann. In der DDR stand die Stadtsoziologie selbstverständlich unter behördlicher Beobachtung. Dennoch trug insbesondere ihr Praxisbezug zum kritischen Diskurs bei. Denn sie stellte die Bedürfnisse der Menschen in den Vordergrund, die oftmals, wie auch im Westen, in der Planung zu kurz kamen.
Immer wieder betont der Band sowohl die Bedeutung lokaler Variationen als auch deutsch-deutsche Verflechtungen: Jana Breßler und Detlef Kurth (2022) beschreiben den kritischen Stadtdiskurs seit den 1970er Jahren, der trotz staatlicher Kontrolle auch auf fachlichen und privaten Ebenen den eisernen Vorhang durchdrang. In der zweiten Hälfte der 1980er-Jahre verhalf dieser zu etlichen Städtepartnerschaften, die explizit den städtebaulichen Austausch zwischen der DDR und der BRD befördern sollten. Der Austausch vor der Wende, so die Autor_innen, bildete ab 1990 eine wesentliche Grundlage für die Realisierung von städtischen Projekten, insbesondere in Altstädten.
Anhand der bedeutenden Modellstädte Halberstadt und Meißen, betonen Benjamin Eckel und Constanze Kummer (2022) nochmals die Relevanz von bürgerschaftlichem Engagement in der DDR. Fehlgeschlagene Wiederaufbaupolitik und ineffektive Denkmalschutzmaßnahmen führten zu Protesten. Bürgerschaftliches Engagement verfolgte bereits seit den 1970er-Jahren eine behutsamere Neubaupolitik und größere Anerkennung historischer Strukturen. Dennoch verloren die Städte bis zur Wendezeit wesentliche Anteile des historischen Bestands durch mangelnde Instandsetzung. In dieser Zeit war eine Vielfalt von zivilgesellschaftlichen Organisationen aktiv, verwoben mit der lokalen Demokratisierungsbewegung. Durch Kooperationen mit der Wissenschaft und später westlichen Partnerschaften, unter anderem mit dem Ziel weiterer Touristifizierung, konnten letztlich viele Ziele erreicht werden.
Caroline Kauert nimmt die letzten Jahre der DDR in Erfurt unter die Lupe (Kauert 2022). Erfurt wurde im zweiten Weltkrieg vergleichbar wenig zerstört, wobei der Altstadtverfall damals bereits eintrat. Trotz der historischen Bedeutung als Tourismusziel wurde in den 1960er-Jahren an den Rändern der Altstadt großflächig abgerissen und stattdessen sozialistisch-industrielle Wohnungseinheiten gebaut. Der neue Diskurs um Stadterhalt ab den 1970ern genoss planungspolitische Resonanz, entfaltete aber praktisch nicht die gewünschte Wirkung. In der zweiten Hälfte der 1980er-Jahre zog insbesondere die Verkehrsplanung Proteste auf sich. Die Ausstellung in der Erfurter Michaeliskirche „Stadtgerechter Verkehr – verkehrsgerechte Stadt“ verzeichnete 1987 mehr als 12.000 Besucher_innen (ebd.: 246). Die dadurch befeuerte Bewegung durchdrang verschiedenste gesellschaftliche Gruppen und setzte sich bis in die Wendezeit fort, in der ein enormer Bestand an Altbauten akut vom Abriss bedroht war. Im Dezember 1989 zum Beispiel bildete sich eine Menschenkette als „Bürgerwall für unsere Altstadt“ (ebd.: 249). Hunderte von Häusern konnten gerettet werden.
Im letzten Teil des Bandes beschreibt Sarah Day (2022) die interaktive Internetseite des Stadtwende-Projekts (https://stadtwende.de/), gefolgt von Thomas Fischer und Holger Schmidt (2022) mit dem Hintergrund zur Wanderausstellung, bevor Jannik Noeske und Wiebke Reinert (2022) sich einer Diskussion mit dem Fachbeirat widmen. Der Aufbau des Buches ist zum Ende hin ungewöhnlich, dafür aber besonders interessant: In diesem Diskussionsforum mit dem Titel „Rückschau nach vorne“ benennen die Historiker_innen Mary Fulbrook und Marcus Böick, die Soziolog_innen Christine Hannemann und Dieter Rink sowie die Architektin Iris Reuther zahlreiche Anknüpfungspunkte, die in Zukunft weiter diskutiert werden könnten.
Im abschließenden Teil von Jana Breßler et al. (2022c) ergeben sich spannende Beobachtungen, die hier nicht einzeln besprochen werden können, und sehr generelle Aufschlüsse, die sich bereits durch die Beiträge im Band ziehen. So stellt sich zum Beispiel heraus, dass sich die geschichtskulturelle Zeitlichkeit der 1970er-Jahre nicht nur im Westen, sondern auch im Osten nostalgischer „Vergangenheitsgefühle“ bediente, was sich auch in der Nachfrage nach alter Bausubstanz niederschlug. Die Einsicht, dass die Aufwertung der Vergangenheit schließlich fortschrittliche Effekte enthielt, erinnert an Marcel van der Lindens Abschiedsvorlesung, worin er die dialektische Agency sozialer Bewegung beschrieb: Oft arbeiten Aktivist_innen gegen Wandel an, wobei dieses Streben sich insgesamt progressiv auswirkt (Linden 2018). Die Wende lässt sich nur multikausal erklären, wobei der Verfall der Altstädte und die Wohnverhältnisse, die Spielräume des darauf bezogenen Bürger_innenengagements, der Expert_innendiskurs in der DDR-Diktatur mit in ihr Verständnis einbezogen werden sollte. Hierbei lassen sich auch historische Analysen eines allgemeinen Wertewandels in Bezug zur Stadt setzen. Die Sorge um den Erhalt der Altstadt in der DDR ist ästhetisch und identitär als Teil der gesellschaftlichen beziehungsweise bürgerlichen Individualisierung entgegen dem ursprünglich anvisierten Kollektivismus zu begreifen, der sich zum Beispiel in der Planung von groß angelegten Plattenbausiedlungen manifestierte. Innerhalb des diktatorischen Systems hatten politische Akteur_innen, inklusive lokaler Aktivist_innen, Intellektuelle und Expert_innen jedoch gewisse Spielräume, die es historisch noch weiter zu erfassen gilt. So bot sich durch städtische Akteur_innen eine Zusammenkunft ökonomisch-materieller, politisch-ideologischer und kulturell-historischer Intentionen, welche die sogenannte friedliche Revolution deutlich mitgeprägt haben.
Eins der Ziele dieses Bandes ist auch, die Kontinuitäten und Pfadabhängigkeiten über den Umbruch hinweg zu beleuchten. Nach der Wende wurden ostdeutsche Städte ökonomisch radikal umgebaut. In diesem Zusammenhang wird zu Recht vorgeschlagen, die verschiedenen Zukunftserwartungen oder -visionen unter den Bedingungen der Deindustrialisierung und Privatisierung in den Jahren nach der Wende weiter zu erforschen. Ein ausbaufähiger Ansatz wäre zudem die konzeptuelle sowie empirische Historisierung städtischer Krisen, die sich im Zuge der Wende herausbildeten. Letztlich sind Phänomene wie die shrinking city oder Gentrifizierung typische Symptome des kapitalistischen Urbanismus. Die Utopie eines Rechts auf Stadt bleibt. Organisationen wie die noch in der DDR gegründete SelbstBau Mietergenossenschaft stehen für derartig existierende Kontinuitäten, die praktische Lösungen bieten (https://selbstbau-eg.de/historie/).
Wie so oft, sind urbane Bewegungen sowohl von urbanistischen Leitbildern als auch materiellen Bedürfnissen gesteuert. Einseitige oder historische Analysen, die selbst auf ideologisch geprägter Methodik fußen, sollten deswegen vermieden werden. Historisch-soziologische Interpretationen, die sowohl Weber’sche als auch Marxistische und gegebenenfalls weitere Blickweisen auf die sozialen und ideellen Strukturen dieser enorm wichtigen Aktivismen unserer urbanen Gesellschaft verbinden, sind hingegen unabdingbar. Dabei geht es nicht nur um lokale Narrative: In der Geschichte waren städtische Proteste oft elementarer Bestandteil beziehungsweise Ausgangspunkt weitreichender revolutionärer Entwicklungen. Als Rezensent will ich betonen, dass dieser Band somit hervorragende – in der Tat bahnbrechende – Perspektiven eröffnet und weiteren internationalen Studien als Beispiel dienen sollte. Eine englischsprachige Zusammenfassung des Stadtwende-Projekts wäre erstrebenswert.