sub\urban. zeitschrift für kritische stadtforschung 2024, 12(2/3), 181-192

doi.org/10.36900/suburban.v12i2/3.1001

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CC BY-SA 4.0

Debatte zu: Johanna Hoerning und Lucas Pohl „Zum Verhältnis von Stadt, Sterben und Tod“

Kommentare von: Jan Hutta, Akin Iwilade, Nina Kreibig

Der distanzlose Tod

Kommentar zu Johanna Hoerning und Lucas Pohl „Zum Verhältnis von Stadt, Sterben und Tod“

Akin Iwilade

1. Einleitung

Tod und Sterben – als zeitliche Momente wie auch als sozialer Kontext – können tiefgreifende Auswirkungen darauf haben, wie sich gewalttätige Gruppen in der städtischen Marginalisierung selbst wahrnehmen und steuern. Darüber hinaus können sich Tod und Sterben aber auch auf die Beziehungen der Gangs zur Stadt auswirken sowie darauf, wie sie der Staatsmacht begegnen und über sie denken. Durch das Schaffen distanzloser Todeswelten, die den Tod in der Stadt außergewöhnlich sichtbar machen, fordern gewalttätige Gangs auf einzigartige Weise eines der Kernelemente der Macht des Staates über seine Subjekte heraus: die Fähigkeit, Gewalt vor den Blicken zu verbergen (Crossley 1993).

Aber was bedeutet der Tod im Gangmilieu für unsere Wahrnehmung von Gewalt und Ordnung im städtischen Raum? Auf diese Frage gibt es drei mögliche Antworten. Erstens ist das Sterben im Gangmilieu an der Schnittstelle eines wohlbekannten Dilemmas der Stadt verortet – nämlich der Frage, wie man den inhärenten Widerspruch verstehen kann, dass der Staat in der Stadt einerseits massiv präsent ist (durch ein recht dichtes Geflecht extraktiver Infrastruktur wie Besteuerung und Überwachung), andererseits aber auch ziemlich abwesend (insbesondere bei der Bereitstellung sozialer Güter in den armen städtischen Marginalgebieten). Tote im Gangmilieu verkörpern diesen Widerspruch, weil sie in der Regel zu hartem und unübersehbarem Durchgreifen seitens des Staates führen, beispielsweise in Form willkürlicher Festnahmen, obgleich die schiere Straflosigkeit von Ganggewalt eines der deutlichsten Anzeichen der Ohnmacht, Abwesenheit und Grenzen staatlicher Autorität ist. Zweitens eröffnet das Erforschen des Todes im Gangmilieu die Möglichkeit, Erkenntnisse hinsichtlich der räumlichen Verteilung von Gewalt in Städten zu gewinnen. So lässt sich beispielsweise die Sterblichkeitsrate in Städten oftmals unmittelbar mit Auseinandersetzungen zwischen Gangs über die Kontrolle konkreter Räume in Verbindung bringen (Valasik/Tita 2018). Diese Auseinandersetzungen sind das Resultat des materiellen und affektiven Werts, der städtischen Räumen innerhalb der Gangscapes zugeschrieben wird. Und schließlich ist der Tod äußerst hilfreich, um die Ungleichheiten zu verstehen, die das neoliberale urbane Leben hervorbringt, und um zu erkennen, wie grundlegend die Konstruktion einer „guten Stadt“ von der Abwertung des Lebens und der Körper an ihren Rändern abzuhängen scheint. Hier haben wir das, was Michael McIntyre und Heidi Nast (2011) als eine räumliche Einheit beschreiben, die im heutigen neoliberalen Kapitalismus anzutreffen ist und eine „dialektische Produktion“ von „Profit und Bevölkerungsüberschuss, Akkumulation und Enteignung, Leben und Tod“ ermöglicht (Alves 2018: 41; Übers. A. T.).

Da Macht, Politik und Herrschaft in den vorherrschenden Archäologien des Todes verkörpert sind, ist deren Untersuchung auch ein aufschlussreicher Ausgangspunkt, um die Regierung gesellschaftlichen Lebens im weiteren Sinne zu erforschen. Wer einmal jemanden verloren hat, weiß, dass der Tod eines Menschen nicht nur affektive Beziehungen akzentuiert, sondern auch eine ganze Reihe formal vorgegebener Schritte in Gang setzt, die letztlich durch staatliche Macht vermittelt sind, darunter Beurkundungen, Obduktionen, Feststellungen der Todesursache, Testamente und/oder polizeiliche Ermittlungen. Wie Stepputat (2014: 4; Übers. A. T.) ausführt, „artikuliert sich der Staat am Übergang vom Leben zum Tod“, und zwar in einer Weise, welche die biopolitische Natur des menschlichen Lebensendes zum Vorschein kommen lässt. Bei gewalttätigen Gruppen wie städtischen Gangs sind die Redewendungen, mittels derer Sinn konstruiert und artikuliert wird, in der Regel auch von Aktivitäten abgeleitet, bei denen das Sterben eine allgegenwärtige Realität, eine aufregende Aussicht oder ein tatsächlich halbwegs erwartbares Endergebnis darstellt. Die inhärente Gewalt von Gangaktivitäten wie Drogenhandel, Kämpfen um Vorherrschaft und der Inszenierung von Männlichkeit birgt oftmals die sehr reale Aussicht, zu Tode zu kommen. Diese Aktivitäten sind daher der Grund, weshalb einerseits anzuerkennen ist, dass Ganggewalt die primäre Ursache von Sterblichkeit ist, andererseits aber auch, dass diese Gewalt durch den urbanen Kontext selbst hervorgebracht wird. Marie-Louise Glebbeek und Kees Koonings (2016) identifizieren die Schnittmenge von Stadt und Gewalt und machen vier zweckdienliche Vorschläge, wie sich Gewalt explizit als „urban“ beschreiben lässt. Der erste besagt, dass Gewalt üblicherweise eine Strategie zur Kontrolle des städtischen Raumes darstellt. Im zweiten geht es um die Sichtbarkeit von Gewalt als Folge demographischer und räumlicher Verdichtung. Drittens ist Gewalt in bestimmten städtischen Gebieten endemisch. Und schließlich führt urbane Gewalt zu einer Fragmentierung städtischer Räume, die dann ihrerseits hybride Formen legitimer Zwangsmaßnahmen nach sich zieht.

2. Was ist der distanzlose Tod?

In der Anthropologie wird seit Langem darüber diskutiert, wie sich den Symbolismen und Materialitäten des Todes am besten anzunähern sei. Beispielsweise lag ein Schwerpunkt zunächst darauf zu verstehen, wie es Gesellschaften gelingt, angesichts der Endgültigkeit des Todes Kontinuität zu schaffen. Dieser Ansatz schien den Tod in erster Linie über seine symbolische Bedeutung fassen zu wollen (Palgi/Abramovitch 1984). Seither haben Kurswechsel in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Tod dazu geführt, dass die materiellen Aspekte des Sterbens vermehrt in den Vordergrund gerückt sind. Dazu gehören Themen wie die räumliche Organisation von/auf städtischen Friedhöfen (Alimi 2022), der Umgang mit Leichen (Stepputat 2014; Ololajulo 2017) und die Ökonomie der mit dem Tod verbundenen Rituale, Transaktionen und Emotionen (de Witte 2003).

Der Tod hat offensichtliche biologische und soziale Implikationen, aber er ist zudem auch zutiefst politisch. Angesichts dessen, wie entscheidend die „Kontrolle“ von Sterblichkeit für das Ausüben staatlicher Macht ist, verorten Autoren wie Achille Mbembe (2003) und João Biehl (2005) den Tod in einem Grenzbereich, in dem Leben, Sterben und Macht zusammentreffen. Hier offenbaren prekäre Leben eine Metaphorik des lebenden Todes oder davon, „lebendig tot und außen tot“ zu sein, wie Biehl (2005) es nennt. Dieser Ansatz ermöglicht eine Zusammenführung der symbolischen und materiellen Aspekte von Tod und Sterben mit einer Betrachtung dessen, wie prekäre soziale Leben den Körper bewerten beziehungsweise entwerten und auf welch interessante Weise der Körper – der lebende und der tote – einen Ort souveräner Subjektivierung darstellt. Aber trotz all seiner Verkörperung biologischer, politischer und sozialer Verwundbarkeit kann der Tod auch ein Ort des aktiven Handelns sein, an dem sich das Subjekt der Staatsgewalt widersetzt, sie umgestaltet und sich aneignet. Dies deutet darauf hin, dass souveräne Subjekte in der Lage sind, sich den verwundbaren Akt des Sterbens auf eine Weise anzueignen, die den Moment in ein Instrument verwandelt, mit dem Macht signalisiert, hinterfragt und neu hergestellt wird.

Meine Überlegungen zum Tod im städtischen Gangmilieu, die ich in diesem Essay vorstelle, basieren auf der Berücksichtigung zweier miteinander verbundener Phänomene. Beim ersten Phänomen geht es um das Sterben im Gangmilieu als einmalige Momente, die als isolierte Einzelereignisse auftreten, aber dennoch wirkmächtige und konstitutive Orte sozialer Sinngebung darstellen. Was diese Momente so wirkmächtig macht, ist nicht allein ihre tragische biologische Endgültigkeit, sondern auch das Schauspiel, das sie umgibt, wenn der verstümmelte Leichnam als wahrhaftes Schreckgespenst der Gewalt/Gewalttätigen vorgeführt wird. Beim zweiten Phänomen geht es um den Tod im Gangmilieu als andauernden Moment. Auch hier tritt der Tod zwar üblicherweise als Einzelereignis auf, aber in den Gangscapes tut er dies mit solcher Häufigkeit, dass diese Einzelereignisse über zeitliche und materielle Räume hinweg andauern, wodurch sie miteinander verbundene morbide Realitäten erzeugen.

Für die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Tod im städtischen Gangmilieu ist diese Unterscheidung von großer Bedeutung. Erstens erkennt sie an, dass die Häufigkeit der Todesfälle und das damit einhergehende Gefühl der sozialen (und nicht nur rein biologischen) Unausweichlichkeit des Sterbens das Zutodekommen für Gangmitglieder zu etwas Größerem als einem gelegentlichen Bruch im beständigen Fluss des Alltagslebens werden lässt, nämlich vielmehr zum eigentlichen Lebenskontext. So wird der Tod auf eine Weise distanzlos, die normalen Menschen absolut unbekannt ist, außer natürlich, wenn sie unter Ausnahmebedingungen leben, wie etwa während Pandemien oder anhaltender Konflikte.

Zweitens ist diese Distanzlosigkeit des Todes in städtischen Gangscapes gleichermaßen räumlicher, sozialer und zeitlicher Natur. Sozial distanzlos ist der Tod für Gangster insofern, als das Sterben im Wesentlichen ein Akt performativer Männlichkeit ist – somit ein Akt der Zugehörigkeit. In räumlicher Hinsicht bedeuten die beengten Verhältnisse der städtischen Marginalität, dass es nicht einmal den vom Staat/der Gesellschaft eingesetzten Archäologien des Todes, die seine Unsichtbarkeit vorgeben, wirklich gelingen kann, die Blutflecken des Gangsterbens zu verbergen. Der eigentliche Sinn staatlicher Techniken zur Steuerung des Umgangs mit dem Tod besteht darin, ein System zu kodifizieren, welches die Einhegung des Leichnams gewährleistet. Einige der Rechtfertigungen für diese Kontrolle sind unter dem Blickwinkel der öffentlichen Gesundheit wegen der von verwesenden Leichen ausgehenden Gefahren entstanden und haben zu räumlichen Praktiken wie Friedhöfen und biosozialen Praktiken wie der Einbalsamierung geführt (Stepputat 2014). Was diese Praktiken leisten, ist, dass sie den Leichnam abschirmen (oder, wenn man so will, unsichtbar machen) und die tragische Realität des Sterbens den Blicken entziehen. Eines der Kennzeichen einer guten Stadt und der Ziele staatlicher Planung in dieser Hinsicht ist folglich, dass der Tod unsichtbar gemacht wird. Um dies zu erreichen, müssen Leichen schnell und effektiv geborgen werden, Mord oder „illegitimes Sterben“ müssen illegal sein und minimiert werden und die Verantwortlichkeit für alle Aspekte des Sterbens muss zugewiesen und reguliert werden. Geregelt wird dieses Ziel durch ein ausgeklügeltes System von Gesetzen, Normen und sozialräumlichen Praktiken.

Es ist diese Kontrolle über das Sterben, die Gangs fundamental bedrohen, wenn sie gegenhegemoniale Moraluniversen erschaffen, in denen sie sich das Recht des Staates, Leben zu nehmen, aneignen und morbide Spektakel veranstalten, welche die Realität des Sterbens zurück in die städtische Öffentlichkeit treiben. Bei ganz gewöhnlichen Todesfällen in der Stadt bedeuten die geltenden Regularien meist, dass der Leichnam so schnell wie möglich weggeschafft wird. Dem Kontakt mit dem Leichnam, einschließlich des Zeigens von Bildern des toten Körpers, sind enge Grenzen gesetzt. Ganggewalt untergräbt jedoch diesen Wunsch nach Unsichtbarkeit, da sie von ihrem Wesen her nach öffentlicher und viszeraler Zurschaustellung von Macht strebt, was unweigerlich ein hohes Maß an staatlicher Intervention nach sich zieht. Der Tod eines Gangsters wird dann durch die unvermeidliche Medienberichterstattung sichtbar gemacht. Dennoch bleibt hinter dem obszönen Spektakel der Zurschaustellung seines toten Körpers und der umfassenden polizeilichen Untersuchung das verstorbene Individuum ein Nichts – eine irrelevante Fußnote urbaner Gewalt.

Und schließlich, in zeitlicher Hinsicht, sterben Gangmitglieder einfach zu häufig, als dass die Zeit ausreichen würde, um jene Grenzen der Erinnerung zu ziehen, die Heilung ermöglichen. Die Realität des Todes wird daher zum chronischen Zustand, zu etwas, womit man leben muss, etwas Erwartbarem, etwas, das niemals endet und damit distanzlos ist.

3. Der Zurschaustellungskomplex: extreme Momente des morbiden Spektakels verstehen

„Visual records of the human casualties of violence are therefore never entirely devoid of political signification.“

(Linke 2018: 384)

Im Mai 2024 berichtete die nigerianische Tageszeitung Daily Post (Daily Post Staff 2024), dass ein ranghohes Mitglied der berüchtigten Aiye-Gang in Ijoko, einer Stadt im südwestlichen Bundesstaat Ogun, ermordet worden sei. Die Angreifer hatten seine Hände abgeschnitten und mitgenommen. Es hieß, die Tat sei von Mitgliedern der Eiye-Bruderschaft, einer rivalisierenden Gruppe, begangen worden. Einige Tage später wurde ein Mitglied der Eiye-Bruderschaft, ein Tankstellenmitarbeiter, in einem Akt der Vergeltung angegriffen. Er wurde zuerst angeschossen und dann mit Äxten zu Tode gehackt. Anschließend wurde sein Kopf abgeschlagen und in einem makabren Schauspiel auf der Ijoko-Brücke aufgehängt. In den urbanen Gangscapes Nigerias ist solch ein gewalttätiges Spektakel nicht ungewöhnlich. Aber warum muss der Tod ein so makabres Schauspiel sein?

In seiner Analyse der Überschneidungen zwischen der Geschichte staatlicher Disziplinierung und Zwangsmaßnahmen und der des grandiosen Spektakels kommt Tony Bennett (1994: 124; Übers. A. T.) zu dem Schluss, dass es einen „Zurschaustellungskomplex“ gebe, der beteiligt sei am

„Transfer von Objekten und Körpern aus den geschlossenen und privaten Bereichen, in denen sie zuvor ausgestellt wurden (aber nur einem begrenzten Publikum zugänglich waren), in zunehmend offenere und öffentlichere Bereiche, wo sie aufgrund der mit ihnen vorgenommenen Repräsentationen zu Trägern der Einschreibung und Verbreitung von Botschaften der Macht (wenn auch einer anderen Art) in der gesamten Gesellschaft wurden.“

In vielerlei Hinsicht stellt das von urbanen Gangs geschätzte morbide Spektakel eine tiefgreifende Überschneidung dieser beiden Geschichten – Disziplinierung und Zurschaustellung – dar, denn letztlich geht es darum, durch die Fähigkeit zu schockieren, Macht zu begründen.

Brutale Schauspiele wie das oben beschriebene werden als Teil eines makabren Systems der Gangunterhaltung inszeniert, bei dem rivalisierende Gruppen versuchen, sich in ihrem Mut zu haarsträubenden Aktionen gegenseitig zu übertreffen. Dieses Muster findet sich in allen Aspekten urbaner Gangkulturen, von Slangausdrücken über Kleidung und Mode bis hin zu Systemen der übertriebenen Artikulation von Respekt, Empörung und Beleidigung, durch die die Gewalt überhaupt erst ausgelöst wird. Zwar sind morbide Spektakel wie ein abgetrennter Kopf auf einer Brücke schockierende Beispiele für das Extreme der Gangwelt, aber es ist durchaus festzuhalten, dass Gangkulturen generell versuchen, sich als außerhalb der Gesellschaft stehend, als un-menschlich darzustellen. Das ist einer der Gründe, warum es so scheint, als ob Gangs „ihre Menschlichkeit ablegen“ (Mikkelsen 2020: 2; Übers. A. T.), wenn sie den Tod im städtischen Raum so sichtbar machen, und dies mit so wenig Rücksicht auf etablierte Normen, wie ein Leichnam behandelt, respektiert und gefürchtet werden sollte. Doch gerade das Extreme des Gangdaseins hat zur Folge, dass die Gesellschaft versteht, warum Gangs so handeln – ein Verständnis, das ihre Menschlichkeit wiederherstellt. Indem sie zu Monstern des Spektakels werden, verkörpern sie das, was Henrik Mikkelsen (ebd.: 16) als das „extreme Gleiche“ bezeichnet – eine Verkörperung dessen, was wir alle werden könnten. In postkolonialen städtischen Zentren wie Lagos, in denen Ausbrüche scheinbar unkontrollierter und irrationaler Gewalt, wie wir sie bei der Zusammenrottung von Mobs beobachten können, relativ häufig vorkommen, sind gewalttätige Gangspektakel nicht wirklich so sehr das Andere.

Der Zurschaustellungskomplex schafft nicht nur die Notwendigkeit, die Gewalt in die Öffentlichkeit einzuschreiben, sondern stellt auch die Mittel bereit, mit denen diese Gewalt im öffentlichen Bewusstsein eingebrannt und erinnert werden kann. Es ist diese Einschreibung brutaler, einmaliger Momente des Sterbens in das öffentliche Vorstellungsvermögen, die uns hilft, über den distanzlosen Tod nachzudenken. Die Brutalität des Mordes in Ijoko hat sich nicht deshalb in die öffentliche Vorstellungswelt eingeschrieben, weil jemand getötet wurde, sondern wegen der makabren Zurschaustellung des Kopfes auf der Brücke. Mein Argument ist, dass der Mord an sich nicht ausreicht, um den Tod distanzlos zu machen. Dies geschieht erst durch die bewusste Konstruktion dieses morbiden Moments als Spektakel. Über das Spektakel findet das ansonsten „nicht beachtenswerte“ Ereignis eines allzu alltäglichen Gangmordes Eingang in Straßenmythen, Gespräche und Vorstellungswelten. Dies erzeugt bleibende Überlieferungen von Gewalt, Opferschaft und Heldentum, die den Tod fest in der Vorstellungswelt der Gangs verankern.

4. Chronizität und damit verbundene morbide Realitäten

Aber was, wenn diese einmaligen Momente des Sterbens im Gangmilieu so häufig vorkommen, dass sie zum Kontext des sozialen Lebens werden? Henrik Vigh (2008: 6; Übers. A. T.) fordert uns auf, die analytischen Implikationen von Krisen zu erkennen, die chronisch sind und „eine ständige Gefahr, die hinter dem Horizont lauert“, beziehungsweise „eine in einem konfliktträchtigen sozialen Umfeld tief verwurzelte Möglichkeit“ darstellen. Im Kern bedeutet die Idee der Chronizität das Verständnis, dass Krisen für viele Menschen, die in prekären Verhältnissen leben, nicht einfach nur episodisch sind, sondern dadurch, dass sie sich über einen langen Zeitraum erstrecken, letztlich alles sind, was diese Menschen kennen, und sich das soziale Leben schließlich an diese Realität anpasst.

Chronische Gewalt ist nicht allein das Ergebnis von Gangpraktiken, sondern wird auch durch die Eigenarten des urbanen Lebens und der Raumpolitik selbst erschaffen und begünstigt, insbesondere durch die Art und Weise, wie die Stadt Ungleichheiten verschärft, Menschen isoliert und gesellschaftliche Solidaritäten zerrüttet. Danny Hoffman (2007: 422; Übers. A. T.) argumentiert in ähnlicher Richtung, wenn er ausführt, dass die postkoloniale Stadt anfällig für endemische Gewalt sei, weil ihre spezifischen Formen der räumlichen Organisation und ökonomischen Praktiken „Räume für die Organisation und den Einsatz von Gewaltarbeit“ generieren. Sein Argument ist, dass die Stadträume mit einer hohen Konzentration junger Körper häufig genau die sozialen Bedingungen schaffen, die eine gewalttätige Arbeiterreserve hervorbringen, und dass die Stadt aus „vernetzten Barackenräumen und Knotenpunkten für das Versammeln und den Einsatz von Körpern“ besteht (ebd.).

Dass die Stadt Gewalt hervorbringt, ist ein Grund dafür, dass der für Ordnung sorgende Staat zwangsläufig durch bürokratische, Be­steuerungs- und Kontrollregimes übermäßig präsent ist. Als Folge dieser Hypervisibilität ziehen die Handlungen von Gangstern ein hohes Maß an staatlicher Überwachung und Disziplinierung nach sich. Da die Gangs jedoch außerhalb der Gesellschaft oder, besser gesagt, an ihren Rändern stehen, ist diese Kontrolle oftmals ambivalenter Natur, also etwas, das zwar gegenwärtig, aber weitgehend desinteressiert ist – eine Art chronische Präsenz des Staates, mit der man rechnen muss, die man gleichzeitig aber ignorieren kann. Genau diese ambivalente Beziehung zur staatlichen Ordnungsmacht ermöglicht es, dass die Gewalt des Ganglebens den Tod als so distanzlos hervorbringt. Denn sie lässt die Gewalt gären, und zwar so, dass kaum jemand befürchten muss, zur Rechenschaft gezogen zu werden. Zudem ist der städtische Raum der Erinnerung an Ganggewalt förderlich. Die räumliche Dichte einer Stadt wie Lagos bedeutet oftmals, dass über gewalttätige Spektakel nicht nur umfassend berichtet wird, sondern im Zeitalter der sozialen Medien auch, dass sie öffentlich so archiviert werden, dass sie auf jeden Fall Eingang in die urbanen Straßenmythen finden.

Da der Tod zur chronischen Realität wird, verändern sich die Bezie­hungen der Gangs zur Stadt auf signifikante Weise. Zum Beispiel verschwimmen die Grenzen dessen, wer verletzt werden kann und wo Gewalt ausgeübt werden darf, ganz erheblich, wenn vormals unantastbare Kategorien plötzlich zu legitimen Zielen werden. Dies ist insbesondere bei lang anhaltenden Konflikten der Fall und richtet sich dann häufig gegen die Symbole staatlicher Autorität wie Polizei und Elite. Durch das Verwischen der Grenzen entsteht zwangsläufig auch eine feindseligere Stadt, in sozialer wie auch räumlicher Hinsicht. In Ikorodu, einer Stadt im Großraum Lagos, lösten mehrere brutale Morde durch Mitglieder der Badoo-Gang [2016/17; Anm. d. Übers.] eine derartige Angst und Hysterie aus, dass sich marodierende Mobs bildeten, die jeden töteten, der fehl am Platz oder auch nur im Entferntesten verdächtig schien. Diese Mobmorde haben ein bleibendes Vermächtnis hinterlassen: Durch privatisierte Sicherheit und räumliche Neuordnung wurden Teile des Gebietes in Zonen der Ausgrenzung verwandelt – gefährlich für Außenstehende und angespannt für die Bewohner_innen.

5. Fazit

Wenn wir den Tod im Gangmilieu und die ihn begünstigende Gewalt erforschen, hat dies entscheidende Auswirkungen darauf, wie wir über den urbanen Raum nachdenken. Schauspiele des übermäßigen Todes befördern die räumliche, klassen- und mitunter auch identitätsbedingte Umstrukturierung der Stadt. So lässt sich in Städten wie Lagos häufig beobachten, dass Zonen der Ausgrenzung entstehen, die durch bewachte Wohnanlagen, die private Militarisierung der Straßen und die Ausweitung des disziplinierenden Blicks durch Kontrolltechniken wie Überwachungskameras gekennzeichnet sind. Dies sind Versuche der Stadt, sich als Reaktion auf die unbehagliche Distanzlosigkeit zu Gangkriminalität und Tod neu zu erfinden, was zu dem führt, was Glebbeek und Koonings (2016: 4) als „Fragmentierung der Stadt“ in Räume (il-)legitimer Zwangsausübung beschreiben. Als Metapher für das Verwerfliche ermöglicht der Tod – wie ihn Autoren wie Mbembe (2003) und Biehl (2005), die das Biopolitische erforschen, verstehen – auch der Stadtforschung, die körperlichen und emotionalen Auswirkungen struktureller Ungleichheiten zu erkennen und auf welch entscheidende Weise diese Ungleichheiten durch Stadträume vergrößert, verstärkt, kategorisiert und reproduziert werden.

Ganggewalt bedroht die Grundfesten des urbanen Lebens, und dies nicht nur, indem sie den sozialen Zusammenhalt zerrüttet. Problematischer ist ihre Kampfansage an die Vorstellung, dass der Blick der Gewalt unsichtbar sein sollte – wie in Benthams Panopticon-Prinzip. Wie wichtig Unsichtbarkeit für die Macht ist, hat Michel Foucault (1991) eindrücklich dargelegt. In seinen Ausführungen zum Panoptismus verdeutlicht er, dass die wahre Macht des staatlichen Blicks nicht allein darin besteht, die Staatssubjekte beobachten zu können, sondern in seiner Fähigkeit, diesen Blick unsichtbar zu machen. In vielerlei Hinsicht geht es bei der Entwicklung von „Zivilisation“ und „sozialer Ordnung“ um die Entfernung des Todes und der von ihm verkörperten Gewalt aus der Nähe der Öffentlichkeit. Gangster untergraben dieses Bestreben, wenn sie eine Atmosphäre erzeugen, die von anhaltender Gewalt und Tod geprägt ist, und dazu noch mit brutalem Spektakel und Flair.

Aber vielleicht noch entscheidender sind die vom distanzlosen Tod bedingten, nicht recht greifbaren Normverschiebungen und deren Bedeutung für die Entstehung und Regierung urbaner Moraluniversen. Die Fragen, wer als verachtenswert gilt, welche Gewalthandlungen akzeptabel sind und wo die Verantwortlichkeit im Falle von Gewalt liegt, werden moralisch komplizierter an Orten, an denen Tod und Sterben distanzlos geworden sind. Die herrschende Logik des Moraluniversums, das den Tod zu verbergen sucht, wird durch die morbide Chronizität effektiv auf den Kopf gestellt, was unweigerlich zu einer Entfesselung (und Legitimierung) repressiver Überwachungs- und Disziplinierungssysteme führt, die das Problem letztlich weiter verschärfen.

Wie oben ausgeführt, verweist der distanzlose Tod auf eine Beziehung zur menschlichen Sterblichkeit, die dem extrem hohen Schwund, wie er in gewalttätigen Kontexten auftritt, Rechnung trägt. Der distanzlose Tod könnte auch zu einer Veränderung der Art und Weise, wie [verschiedene soziale; Anm. d. Übers.] Gruppen regiert werden, führen. Und er sollte nicht so verstanden werden, wie wir den Tod in einem normalen Lebenslauf verstehen würden. Tode im Gangmilieu verbinden das Gespenst extremer Brutalität mit hoher Sterbehäufigkeit und existieren daher in einem Ausnahmezustand – vergleichbar mit Pandemien oder anhaltenden Konflikten, die zu hoher Sterblichkeit führen – und eröffnen neue Möglichkeiten, die Auswirkungen von Gewalt auf die Psyche urbaner Jugendlicher zu verstehen. In dieser Hinsicht sind die Art und Häufigkeit der Gewalt vielleicht entscheidender als die Tatsache der Gewalt an sich, und die zentralen Charakteristika des Ganglebens – von der Selbstinszenierung bis zur Männlichkeit – entwickeln sich in der Anerkennung dieses Risikos für den Körper.

Der Körper eines Gangsters trägt sichtbare Archive der Straßengewalt mit sich herum, die sich in grausigen Narben, symbolischen Täto­wierungen und fehlenden Gliedmaßen zeigen. Im Kern schreibt sich das Gangleben in die Körper ein – in die lebenden wie auch in die toten. In derselben Weise führt auch die Stadt Archive anhaltender Ganggewalt mit sich, mit Zonen der Gefahr (und der Ausgrenzung), die sich in das Bewusstsein der Bewohner_innen eingeschrieben haben, und mit physischen Infrastrukturen, die Spuren von Gewalt, Zerfall und Zusammenbruch aufweisen. Insgesamt zeichnet sich der Tod groß und bedeutungsvoll über urbanen Gangkulturen ab.