Abb. 1 Darstellung K.S.
Abb. 1 Darstellung K.S.

Welche Bilder kommen Ihnen in den Kopf, wenn Sie die Begriffe Obdachlosigkeit und Wohnungslosigkeit lesen oder hören?[1] Bei visuellen Assoziationen greifen wir Menschen spontan auf durch Sehen gelerntes Wissen zurück (Schürmann 2008). Zwar variiert dieses Wissen je nach individuellen Bezugspunkten, hier zum Thema Obdach- und Wohnungslosigkeit. Jedoch prägen auch Dokumentationen, Reportagen, Fotoserien, Filme, Spendenplakate etc. durch visuelle Repräsentationen unsere Vorstellungen davon, wie Obdach- und Wohnungslosigkeit aussieht. Mit Illustrationen, Kupferstichen, Holzschnitten und besonders mit Hilfe der Fotografie hat sich über Jahrhunderte ein Repertoire an gesellschaftlich akzeptierten Darstellungen von Obdach- und Wohnungslosigkeit herausgebildet, das in unterschiedlichen Variationen immer wieder reproduziert und so stets aktualisiert wird (vgl. Goldfischer 2018; Schmidt 2015; Lancione 2014; Korff 1997). Bis heute transportieren solche visuellen Repräsentationen meist implizit wie explizit stereotype und abwertende Nachrichten über obdach- und wohnungslose Menschen und deren Situationen. Aus diesem Grund werden in diesem Beitrag solche Bilder nicht gezeigt. Vielmehr soll dafür sensibilisiert werden, dass das Sehen und Imaginieren von Obdach- und Wohnungslosigkeit in ein dominantes visuelles Regime eingebettet ist, das ungleiche gesellschaftliche Machtverhältnisse reproduziert und stabilisiert.

Dementsprechend sollen die nächsten Seiten den gelernten Blick auf Obdach- und Wohnungslosigkeit irritieren und die vom dominanten visuellen Regime geprägten Seherwartungen in Frage stellen. Dazu greift der Beitrag Fotografien und Kommentare von zwölf Menschen in Situation der Obdach- und Wohnungslosigkeit auf. Diese sind im Rahmen des Dissertationsprojektes Ordinary Homeless Cities? Geographien der Obdach- und Wohnungslosigkeit in Rio de Janeiro und Hamburg (Schmidt 2018) zwischen 2012 und 2013 entstanden. Aus global-urbaner Perspektive auf Hamburg und Rio de Janeiro geht es der Arbeit nicht darum, Situationen der Obdach- und Wohnungslosigkeit zwischen beiden Städten zu vergleichen, sondern einem global funktionierenden Mechanismus des ‚urban othering‘ entgegenzuwirken, der obdach- und wohnungslose Menschen als ‚urbane Andere‘ in einer vermeintlich ‚anderen‘ urbanen Realität positioniert. Mit dem Fokus auf die unterschiedlichen Stadtkontexte Hamburg und Rio de Janeiro wird deutlich, dass jenseits von dichotomen Kategorien wie Stadt im Globalen Norden/Globalen Süden Obdach- und Wohnungslosigkeit als Teil urbaner Verhältnisse von Städten weltweit zu verstehen ist (ebd.).

Im Kontext der diesbezüglichen ethnographischen Forschungen in Kooperation mit Einrichtungen der Wohnungslosenhilfe in Hamburg und Rio de Janeiro nahmen mit Hilfe von Einwegkameras jeweils sechs Personen in Situation der Obdach- und Wohnungslosigkeit in beiden Städten zur Fragestellung „Mein Hamburg/Mein Rio“ Fotos auf. In den anschließenden Interviews zu den Fotos deuteten und erläuterten die Fotograf_innen ihre Bilder. Als Ergebnis dieser methodischen Variante der „reflexiven Fotografie“ (Dirksmeier 2013) wurden Bilder durch Menschen in Situationen der Obdach- und Wohnungslosigkeit produziert, die sich weniger auf ihre vermeintliche obdach- und wohnungslose Identität beziehen, als vielmehr einen Einblick in Machtverhältnisse im jeweiligen städtischen Alltag geben.

Die in die folgende Erzählung eingewobenen Bezüge zwischen Bild und Text beruhen so zum einen auf dem empirischen Material der Fotointerviews. Zum anderen beziehen sich die im Text beschriebenen Reaktionen auf verbale Rückmeldungen der Ausstellungsbesucher_innen zu den Bildern, die in Form von Wanderausstellungen in beiden Städten bereits mehrfach ausgestellt oder in Vorträgen gezeigt wurden. Verschiedene Publika hatten hier die Möglichkeit, die Bilder zu betrachten und ihre Sichtweise dazu zu äußern. Alle direkten Bezüge aus der Empirie werden im Text kursiv hervorgehoben und zum Teil paraphrasiert.

Ausgehend von einem dominanten visuellen Regime der Obdach- und Wohnungslosigkeit ist es interessant, die eigene Imagination zu befragen, welche Bilder nun erwartet werden – wissend, dass es sich im Folgenden um Fotos handelt, die von Menschen in Situation der Obdach- und Wohnungslosigkeit aus Hamburg und Rio de Janeiro gemacht wurden.

„Mein Hamburg/Mein Rio de Janeiro“

Stadt mit obdach- und wohnungslosen Perspektiven sehen?

Fotografien von P.H./S.G./M.S.V./H.H./M.C./S.S./E.P/J.A./K.S., erzählt von K.S.

Abb. 2 und 3
Abb. 2 „Bei schönem Wetter halte ich mich da gerne auf, hinter der Langen Reihe. Eis holen und schön auf die Wiese legen. Ich gehe nachher vielleicht auch noch hin.“ (© P.H., 8.6.2012)
Abb. 3 „Lapa: ein historischer Ort. Wer nach Rio kommt und nicht in Lapa war, war nicht in Rio. Dieses Bauwerk ist Tradition. Es ist mehr als 200 Jahre alt.“ (© S.G., 1.9.2012)

Sowohl Hamburg als auch Rio de Janeiro sind touristische Städte, deren Sehenswürdigkeiten emblematische Orte darstellen, die von Besucher_innen sowie Bewohner_innen immer wieder gerne aufgesucht und auf die eine oder andere Weise abgelichtet werden. Dies gilt für die Außenalster in Hamburg wie auch für die Bögen von Lapa in Rio. Auch für die beiden Fotografen stellen diese Orte Erholungsorte dar, an denen sie sich gerne aufhalten und die Umgebung, den Blick auf ein historisches Bauwerk (S.G.) oder ein Eis am Alsterufer (P.H.) genießen (vgl. Abb. 2 und 3). Die beiden Motive sowie die damit verbundenen Aktivitäten stellen per se keine Besonderheit dar, verweisen sie doch auf Praktiken und Sichtweisen, die üblicherweise von vielen Menschen an diesen Orten ausgeübt und übernommen werden. Im Kontext von Obdach- und Wohnungslosigkeit rufen sie dennoch Irritation hervor. Reaktionen auf diese Bilder zeigen immer wieder, dass diese Fotos für Betrachter_innen eine Überraschung darstellen. Dies betrifft zum einen die ästhetische Qualität der Bilder und zum anderen deren inhaltliche Aussage. Hier werden verinnerlichte Stereotype über Menschen in Situation der Obdach- und Wohnungslosigkeit deutlich, wenn hinterfragt wird, ob tatsächlich eine obdach- oder wohnungslose Person diese Bilder gemacht hat (z.B. Ausstellung Rio 2012). Diskurse des Mangels, der Unfähigkeit, der Krankheit etc. (Mattos/Ferreira 2004) lassen es unmöglich erscheinen, dass Menschen in Situation der Obdach- und Wohnungslosigkeit Fotoapparate bedienen, ästhetisches Gespür haben oder schöne Orte zeigen können. Ebenso irritierend erscheint für viele der genussvolle Aufenthalt im öffentlichen Raum zu sein, der obdach- und wohnungslose Menschen von den ‚regulär behausten‘ Bewohner_innen der Stadt nicht trennt, sondern sogar eventuelle Gemeinsamkeiten (Eis essen!) herstellt (z. B. Ausstellung Hamburg 2012). Die Bilder zeigen, dass obdach- und wohnungslose Menschen, wie andere auch, Teil des gewöhnlichen urbanen Lebens sind und nicht in einer anderen Realität leben. Gleichzeitig ist es genau diese Realität, die von Machtverhältnissen durchzogen ist, in die Obdach- und Wohnungslosigkeit auf besondere Art eingebunden ist.

Abb. 4 und 5
Abb. 4 „[…] Das Monument repräsentiert das wirkliche Brasilien. […] Die Indigenen, die Tupí, die Guaraní – sie sind unsere echte Ethnie. Nicht die portugiesische, wir sind kolonisiert. […] Hier hat meine Kindheit stattgefunden. […] Früher gab es hier eine Wasserstelle, da habe ich immer geduscht. […] Der Bürgermeister César Maia hat die Duschmöglichkeit entfernt.“ (© M.S.V., 13.4.2013)
Abb. 5 „Ich bin eigentlich jeden Tag da. Mit dem Bus oder zu Fuß, je nachdem, wieviel Geld in der Tasche.“ (© H.H., 27.5.2012)

„Hä, da sind ja keine Obdachlose drauf.“ (Ausstellung Hamburg 2013) Entgegen der Annahme, dass Fotos, die von Menschen in Situationen der Obdach- und Wohnungslosigkeit gemacht werden, auch Menschen und deren Situationen der Obdach- und Wohnungslosigkeit abbilden, fokussieren viele der Bilder wichtige Aspekte im Alltag von obdach- und wohnungslosen Menschen in Rio de Janeiro und Hamburg. Öffentliche Räume wie Plätze und Parks oder öffentliche Infrastruktur wie WCs oder ÖPNV gewinnen hier jenseits klassischerweise assoziierter Themen der Verdrängung oder Exklusion Bedeutung. Beide obenstehenden Fotografien thematisieren wichtige Aspekte urbaner Geographien der Obdach- und Wohnungslosigkeit – den alltäglichen Aufenthalt und das sich Fortbewegen im städtischen Raum (Robaina 2018). Der Aufenthalt am Praça Tiradentes im Zentrum Rio de Janeiros wirft jenseits der fotografischen Momentaufnahme einen Blick auf die neuere Geschichte des Platzes, indem im Interview aus Schwarzer obdachloser Perspektive die verschiedenen Revitalisierungsphasen und Änderungen der Nutzungsmöglichkeiten kontextualisiert werden (vgl. Abb. 4). Mit Hilfe der Darstellung der Tupí und Guaraní auf dem Sockel des Monuments in der Mitte des Platzes betont der Fotograf die Bedeutung indigener Geschichte Brasiliens und seine Identifikation mit dieser und nicht die der Kolonisatoren (M.S.V.). Hier wird deutlich, wie persönliche Biografie mit kolonialer (Stadt)Geschichte und klassistischen Aufwertungspolitiken von städtischen Räumen verwoben ist.

Aber nicht nur konkrete Orte im, sondern auch das Fortbewegen durch den städtischen Raum spielt bei unterschiedlichen Fotograf_innen eine Rolle. Dabei zeigt sich, wie komplex städtische Mobilität mit Fragen wie Klasse, race, dis/ability, Gender oder Status verknüpft ist (Robaina 2018). So stellt etwas Alltägliches wie das Busfahren in Hamburg gerade für diejenigen, die über eine Be_hinderung Zugang zu vergünstigten oder kostenfreien Tickets (P.H.) haben, sowohl eine Notwendigkeit als auch eine Strategie (z. B. als Zeitvertreib) im Kontext von Obdach- und Wohnungslosigkeit dar, selbst wenn die Nutzung des ÖPNV gleichzeitig regelmäßig durch Erfahrungen der Diskriminierung (P.H.) geprägt sind. Für obdach- und wohnungslose Menschen ohne Zugang zu Vergünstigungen ist der ÖPNV dagegen häufig eine Art Luxus (H.H.), der darüber entscheidet, welche Aktivitäten, Ressourcen und Angebote in Reichweite der eigenen Mobilität liegen (vgl. Abb. 5).

Obwohl die Bilder auf den ersten Blick schnappschussartig wirken mögen, legt deren Reflexion die intersektionalen Verwobenheiten und Dimensionen der Mehrfachdiskriminierung von Personen in Situation der Obdach- und Wohnungslosigkeit innerhalb stadtpolitischer Dynamiken und gesellschaftlicher Machtverhältnisse in urbanen Räumen offen: Beide Fotobeispiele verdeutlichen, wie individuell unterschiedlich (z. B. als Schwarze oder be_hinderte obdachlose Person) Obdach- und Wohnungslosigkeit in der Stadt erfahren werden kann und wie diese Erfahrungen mit konkreten Orten (dem Praça Tiradentes) sowie Begegnungen und Praktiken (im ÖPNV) in der Stadt verschränkt sind. Gleichzeitig ist diese Unterschiedlichkeit jedoch stets kontextbedingt zu verstehen, steht sie doch in Relation zu Herrschaftsverhältnissen (wie der Kolonialität von Armut in Brasilien oder der Neoliberalisierung der Strukturen sozialer Versorgung in Deutschland), die im jeweiligen Alltag von Städten spezifische Wirkmacht entfalten.

Abb. 6 und 7
Abb. 6 „Das ist ein öffentliches Gebäude [und wurde schon mehrmals besetzt]. […] Ich wünschte, es wäre Wohnraum, um diejenigen unterzubringen, die es wirklich benötigen […].“ (© M.S.V., 13.4.2013)
Abb. 7 „[…] die Security von der Behörde hat uns weggeschickt. Wir haben das Bild vom Amt, ich sag mal, ‚beschmutzt‘. […] Der eine, der muss immer wichtig tun. Die anderen gehen vorbei und grüßen.“ (© M.C., 6.7.2012)

Trotz der intersektionalen Relationalität und Komplexität von Obdach- und Wohnungslosigkeit wird die Thematik oft sehr eindimensional und ohne die Perspektive der Betroffenen verhandelt. Für gewöhnlich kommen meist Expert_innen (Vertreter_innen der Sozialbehörde oder der Kirchenverbände, Helfer_innen, Wissenschaftler_innen oder Sozialarbeiter_innen) zu Wort, die über die aktuelle Situation von obdach- und wohnungslosen Menschen und deren geschätzte Anzahl oder über politische Entwicklungen der Obdach- und Wohnungslosigkeit in einer Stadt Auskunft geben (Rosen/Davis 2019). Obdach- und wohnungslose Menschen selbst kommen als politische Subjekte in der Stadt beziehungsweise schlichtweg als Bewohner_innen einer Stadt (außerhalb von Straßenzeitungen) kaum zu Wort. Wenn obdach- und wohnungslose Menschen gebeten werden zu sprechen, dann meist in Bezug zu ihrer persönlichen Situation der Obdach- und Wohnungslosigkeit, also warum, wie lange, wo. Viele der produzierten Bilder beinhalten jedoch dezidiert kritische Stellungnahmen in Bezug auf das „Regieren der Wohnungslosigkeit“ (Marquardt 2013) durch unter anderem städtische Wohnraum-, Austeritäts-, Care- und Kontrollpolitiken, die auf verkörpertem, strategischem und rechtlichem Wissen basieren und gleichzeitig auch illegitime Praktiken offenlegen. So dokumentieren die Abb. 6 und 7 zum einen spekulativen Leerstand und erzählen Geschichten über den Kampf um Wohnraum durch Besetzungen (M.S.V.) in Rio de Janeiro, oder sie thematisieren die Willkürlichkeit einzelner Ordnungshüter_innen (M.C.) in und um Hamburger Behörden.

Abb. 8 und 9
Abb. 8 „Das ist ein krasser Gegensatz zur Straße. […] Klar streite ich auch mit meinem Alten, aber [...] auf der Straße ist es noch wichtiger, dass man zusammenhält, die, die man liebt, die du liebst […].“ (© S.S., 19.06.2012)
Abb. 9 „Mehr als 100 obdach- und wohnungslose Menschen halten sich tagsüber im Campo [Park] auf. […] Ich unterhalte mich mit Freunden, schlafe ein bisschen.“ (© J.A., 06.10.2012)

Neben strukturellen Dimensionen sind es aber auch persönliche Meinungen, individuelle Geschichten oder biografische Erinnerungen, die die Fotograf_innen mit den Fotos teilen. Dabei machen sie unter anderem Themen stark, die vom Diskurs des Mangels, der Verzweiflung und Hilfsbedürftigkeit abweichen und sprechen stattdessen über Liebe (Abb. 8 S.S.), Freundschaft (Abb. 9 J.A.), Familie und Leidenschaften wie segeln und fotografieren (H.H.) oder philosophieren über städtisches Leben im Allgemeinen (S.S.). Die Bilder lösen einen vermeintlichen Widerspruch zwischen Leben auf der Straße und positiven Bezügen auf und zeigen, dass Obdach- und Wohnungslosigkeit nicht identitätsstiftend ist, sondern lediglich einen Teilaspekt des Lebens darstellt und eine Person so viel mehr ausmacht als ihre Wohnsituation.

Abb. 10 und 11
Abb. 10 und Abb. 11 Baumansichten in Hamburg und Rio de Janeiro (© S.S. & E.P.)

Im Gegensatz zur ständigen Vermutung einer vermeintlichen ‚Andersartigkeit‘ der urbanen obdach- und wohnungslosen Bewohner_innen müssen die hier präsentierten Bilder dominante Seherwartungen an die Thematik Obdach- und Wohnungslosigkeit enttäuschen. Eigentlich machen die Bilder einen ziemlich ‚normalen‘ und ‚gewöhnlichen‘ Eindruck – jede_r hätte sie machen können. Genau hierdurch zeigen sie jedoch auf, dass Obdach- und Wohnungslosigkeit keine ‚andere‘ urbane Realität in Städten darstellt, sondern ein zutiefst verwobener Teil der ‚gewöhnlichen‘ urbanen Verhältnisse ist, egal ob in Hamburg oder Rio de Janeiro. Erst wenn die Bilder hinsichtlich ihrer Positionalität im Kontext gesellschaftlicher Machtverhältnisse gelesen und gesehen werden, wird Normalität und Gewöhnlichkeit hinterfragbar. Dieses Hinterfragen und Irritieren funktioniert aber nur dann, wenn solche Bilder und ihre Deutung zirkulieren und auf ein Publikum treffen, das sich mit ihnen auseinandersetzt. Der Rahmen einer Dissertation bietet eine Möglichkeit hierfür, ebenso wie die Publikation eines Essays in einer wissenschaftlichen Zeitschrift.

Abb. 12 und 13
Abb. 12 und Abb. 13 Ausstellungen der Bilder in Rio de Janeiro und Hamburg 2012 (© K.S.)

Über einen akademischen Rahmen hinaus haben die Fotografien das Potential, in Ausstellungen als contact zones (Pratt 1996) zu fungieren, in denen die Bilder den Betrachter_innen Wissen und Sichtweisen obdach- und wohnungsloser Menschen näherbringen. Im Sinne von meaningful encounters (Valentine 2008) können in diesen contact zones, über Momente der Irritation hinaus, Reflexionen angestoßen und Impulse gegeben werden, um etablierte Vorstellungen über Obdach- und Wohnungslosigkeit zu überdenken und eventuell sogar konventionelle Sehgewohnheiten abzulegen. Ausstellungsräume intervenieren so in urbane Normalität und schaffen Raum für diverse Perspektiven und Erzählungen urbaner Obdach- und Wohnungslosigkeit. Durch die Fotos sind wir alle als „citizens of photography“ über verschiedene Rollen hinweg – als Fotograf_innen, Fotografierte oder Betrachter_innen – in einen sogenannten „civil contract of photography“ (Azoulay 2008) eingebunden. Jede dieser Rollen erfordert einen verantwortungsvollen Umgang mit Machtverhältnissen, die jeden Akt des Sehens, des Fotografierens sowie jeden Ausstellungsraum durchziehen.

Abb. 14 und 15
Abb. 14 und Abb. 15 Reflexive Fotografien mit der Einwegkamera (© M.C. & K.S.)

Durch die Umkehrung der Rolle von obdach- und wohnungslosen Menschen in ihrem Verhältnis zu fotografischer Repräsentation gerät Bewegung sowohl in die Machtverhältnisse des civil contract of photography als auch in die einer fotobasierten Forschungspraxis. In der machtvollen Position des Fotografen_der Fotografin schafft die Methode der reflexiven Fotografie in Forschungsprozessen Raum dafür, dass Deutungshoheit obdach- und wohnungslosen Fotograf_innen eingeräumt und ihre Perspektiven auf Stadt ernst genommen werden. Genauso gibt es Platz für „refusal“ (Tuck/Yang 2014), unter anderem durch das Nicht-Fotografieren (siehe Abb. 15), durch die Aneignung der Kameras für eigene Zwecke, oder durch das Nicht-Erklären von Bildern. Gleichzeitig bedeutet das nicht, dass sich Machtverhältnisse dadurch auflösen. Der konkrete Umgang mit den produzierten Bildern und Interpretationen stellt akademische, künstlerische und aktivistische Verwertungspraktiken vor die Herausforderung, wer diese wie und in welchen Kontexten einsetzen darf und kann. Der Umgang mit Fragen nach Autor_innenschaft, Vertraulichkeit, Persönlichkeits- und Bildrechten oder Anonymität sollte dazu führen, dass immer wieder neu ausgehandelt werden muss, was als wissenschaftlich, ethisch, moralisch, rechtlich und inhaltlich vertretbar ist und was nicht. Das gilt auch für diesen Essay, in dem alle Beteiligten nur mit anonymisierten Initialen vorkommen und es nur eine Erzählerin gibt, die in der machtvollen Rolle der Autorin bestimmte Bilder und Aspekte für diesen Fotoessay zusammengeführt hat.

Über den civil contract of photography sind aber auch Sie als Leser_innen Teil dieses Essays. Die Frage ist also nicht nur, welche dominanten Sehgewohnheiten dem Sehen und Imaginieren von Obdach- und Wohnungslosigkeit zu Grunde liegen, sondern auch ganz konkret, wie wir als Betrachter_innen uns als citizens of photography dazu verhalten. Haben die Bilder der obdach- und wohnungslosen Fotograf_innen Ihre Vorstellungen überrascht, bestätigt, gelangweilt oder irritiert? Wenn ja, warum beziehungsweise warum nicht? Schaffen wir es, unser eigenes Sehen kritisch zu hinterfragen? Können wir nicht dominanten Sichtweisen Platz machen? Und wenn ja, welche Konsequenzen hat das für unser persönliches, aktivistisches, künstlerisches, politisches, alltägliches aber auch forschungspraktisches Handeln im Umgang mit Bildern?

Die portugiesische Fassung des Textes ist ebenfalls verfügbar.

Dieser Artikel wurde durch das Institut für Geographie der Universität Hamburg gefördert.

Endnoten

Autor_innen

Katharina Schmidt ist Humangeographin. Sie beschäftigt sich mit feministischen, post- und dekolonialen Perspektiven vor allem auf Stadt, Geographien der Obdach- und Wohnungslosigkeit, Machtverhältnissen globaler Wissensproduktion sowie visuellen Geographien.

fgrv007@uni-hamburg.de

Literatur

Azoulay, Ariella (2008): The Civil Contract of Photography. New York: Zone Books.

Dirksmeier, Peter (2013): Zur Methodologie und Performativität qualitativer visueller Methoden. In: Eberhard Rothfuß / Thomas Dörfler (Hg.), Raumbezogene Qualitative Sozialforschung. Wiesbaden: Springer, 83-101.

Goldfischer, Eric (2018): „Peek-A-Boo, We See You Too“: Homelessness and visuality in New York City. In: Environment and Planning D: Society and Space 36/5, 831-848.

Korff, Gottfried (1997): Bemerkungen zur aktuellen Ikonografie der Armut. In: Siegfried Müller / Ulrich Otto (Hg.), Armut im Sozialstaat. Gesellschaftliche Analysen und sozialpolitische Konsequenzen. Neuwied: Luchterhand, 281-301.

Lancione, Michele (2014): The Spectacle of the Poor. Or: ‚Wow!! Awesome. Nice to know that people care!‘ In: Social & Cultural Geography 15/7, 693-713.

Marquardt, Nadine (2013): Räume der Fürsorge. Regieren der Wohnungslosigkeit im betreuten Wohnen. In: Geographische Zeitschrift 101/3-4, 148-165.

Mattos Mendes, Ricardo / Ferreira Franklin, Ricardo (2004): Quem vocês pensam que (elas) são? Representações sobre as pessoas em situação de rua. In: Psicologia & Sociedade 16/2, 47-58.

Pratt, Mary Louise (1996): Apocalypse in the Andes: Contact Zones and the Struggle of Interpretive Power. Washington D.C.: IDB Cultural Center.

Robaina Medeiros Martins, Igor (2018): População em situação de rua, espacialidades e vida cotidiana. Rio de Janeiro: Brasil Multicultural.

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Schmidt, Katharina (2015): Seeing the „Homeless City“? Some Critical Remarks on the Visual Production of Homelessness through Photography. In: European Journal of Homelessness 9/2, 283-303.

Schmidt, Katharina (2018): Ordinary Homeless Cities? Geographien der Obdach- und Wohnungslosigkeit in Rio de Janeiro und Hamburg. Dissertation. http://ediss.sub.uni-hamburg.de/volltexte/2018/9252/ (letzter Zugriff am 15.10.2019).

Schürmann, Eva (2008): Sehen als Praxis. Ethisch-ästhetische Studien zum Verhältnis von Sicht und Einsicht. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Tuck, Eve / Yang, K. Wayne (2014): R-Words: Refusing Research. In: Django Paris / Maisha T. Winn (Hg.), Humanizing Research: Decolonizing Qualitative Inquiry with Youth and Communities. Thousand Oaks: Sage Publications, 223-247.

Valentine, Gill (2008): Living with difference: reflections on geographies of encounter. In: Progress in Human geography 32/3, 323-337.