Geographische Überlegungen in Zeiten der Pandemie

Rogério Haesbaert

I. Deterritorialisierung ohne Grenzen

Einige der bisher bestimmenden Mantras des planetarischen Globalismus waren: Bewegt euch, reist, beschleunigt, wachst, expandiert, extrahiert (Ressourcen), konsumiert, privatisiert, flexibilisiert (Arbeitsbeziehungen), ‚verlagert‘ (Unternehmen)… All dies hat sich angesichts der Coronavirus-Pandemie plötzlich umgekehrt: Haltet an, reist nicht, verlangsamt, schrumpft, konsumiert nicht, investiert in staatliche Politik und Dienstleistungen, verstaatlicht (Unternehmen in der Krise)… Hier, inmitten des einer Plage gleichenden neoliberalen Booms, ist das Mantra, das in Frage gestellt werden könnte, noch nicht in sein Gegenteil verkehrt worden: Den Arbeiter_innen wird weiterhin eine immer noch größere Flexibilisierung der Arbeitsbeziehungen unterbreitet, als wolle man testen, wie weit die Resignation dieser Massen extrem verletzlicher (Nicht)Beschäftigter reicht. Es ist, als ob die Reichen innehalten und sich in Schutz bringen können, während die Armen weiter in Bewegung bleiben und sich selbst in Gefahr bringen müssen, um unser aller Überleben zu sichern.

Vor siebzehn Jahren habe ich in meinem Buch Der Mythos der Deterritorialisierung geschrieben, dass sich, anders als von Europa und den Vereinigten Staaten aus propagiert, kein ‚Ende der Territorien‘ (Bertrand Badie) und kein ‚Ende der Grenzen‘ und des Nationalstaates (Kenichi Ohmae) ergeben hat, ganz zu schweigen von einem ‚Ende der Geographie‘ (Paul Virilio) (vgl. Haesbaert 2004). Indem es hieß, wir befänden uns in einem Prozess des Verlusts territorialer Bindungen, wurde der Begriff der ‚Deterritorialisierung‘ sehr unpassend gebraucht, nämlich vorrangig in Bezug auf die Reichen – die häufige Ortswechsel und mehrere Wohnsitze (auch in verschiedenen Ländern) haben konnten – und weniger auf die Armen, die de facto den Verlust der Kontrolle über ihre Lebensräume erlitten. Daher schlug ich den Begriff der ‚Multiterritorialität‘ für die Reichen vor, insbesondere für die Führungskräfte großer transnationaler Konzerne, weil sie die volle Kontrolle über die von ihnen frequentierten multiplen Territorien haben, immer in der ‚mobilen Blase‘ derselben Ketten von Hotels, Resorts, Geschäften, Restaurants… Doch selbst dort sind sie auf eine große Fülle von Dienstleistungen angewiesen, die von Arbeiter_innen – im Allgemeinen Migrant_innen, die tatsächlich deterritorialisiert (oder prekär multi-territorialisiert) sind – erbracht werden.

Aus dem Blickwinkel unserer derart von Ungleichheit gekennzeichneten lateinamerikanischen Realität habe ich den Begriff der Deterritorialisierung – jenseits der allgemeinen Bedeutung des Verlassens oder der Zerstörung eines Territoriums – in erster Linie für den effektiven Verlust der territorialen Kontrolle der Ärmsten reserviert, der subalternen Gruppen, die täglich um ihr Überleben kämpfen. Ich habe sogar betont, dass beispielsweise ein_e Obdachlose_r ein Vordach während der Nacht durch dessen Verteidigung zum eigenen Territorium machen kann, so wie ein Gefangener in einer überfüllten Zelle eine Matratze während der wenigen Stunden, in denen er in Wechselschicht auf ihr schlafen kann, zu seinem Territorium machen kann. In diesem Sinne kann Deterritorialisierung vor allem als eine Prekarisierung der unsere Lebensbedingung sichernden territorialen Kontrollen gesehen werden. Man kann sich vorstellen, welche brutalen Konsequenzen diese Pandemie in einer Welt, in der die öffentliche Gesundheit nie Priorität genoss, verursacht – zumal in Ländern wie den unseren in Lateinamerika, mit einer so entwürdigenden historischen Ungleichheit. Und das fängt an bei den Tausenden von Obdachlosen, dem Extrem dieser Pyramide – den Verletzlichsten, weil sie am wenigsten in der Lage sind, sich zu isolieren oder sich ‚sozial zu distanzieren‘.

Es wurde auch behauptet, dass sich eine fließende und ‚flüssige‘ Welt immer ungestümer ausbreite, ein ‚Geschenk‘ der neoliberalen Globalisierung, die alles konsumiert und neu macht, in einem schauderhaften Prozess technologischer Neuerfindung, der immer wieder ‚unnötige Notwendigkeiten‘ erzeugt, die wir, stimuliert durch die Milliarden an Werbeausgaben, emsig konsumieren, auch wenn wir verschuldet sind. In diesem Eifer für das Neue und für die Bewegung hat man jedoch vergessen, dass möglicherweise das Alte nicht stirbt und dass Fixierung und Schließung die andere, unabtrennbare Seite von Öffnung und Bewegung sind. So bedarf es eines Killervirus, um uns an diese alten Lektionen zu erinnern. Und auch, um die These zu bekräftigen, dass jene so viel besungene Deterritorialisierung, die der ‚Tourist_innen‘, ein Mythos war.

Zygmunt Baumans (2003) Metapher der globalisierten ‚Tourist_innen‘ hilft ebenso – mit der gebotenen Vorsicht vor Übertreibung – die rasche Ausbreitung des Coronavirus zu verstehen. Über die bloße Metapher hinaus hat sich im letzten Jahrzehnt die Zahl der Tourist_innen auf der Welt fast verdoppelt und erreicht heute etwa 1,5 Milliarden Menschen. Wenn wir uns daran erinnern, dass auch die internationalen Migrationsbewegungen in den letzten Jahrzehnten erheblich zugenommen und im Jahr 2019 die Zahl von 272 Millionen Menschen erreicht haben (oder 3,5 Prozent der Weltbevölkerung, gegenüber 2,8 Prozent im Jahr 2000; vgl. United Nations 2020), wird uns die Intensität der Bewegung unserer Körper um den Planeten herum bewusst. All dies, ohne die enorme tägliche internationale Mobilität im Zusammenhang mit der Arbeit zu erwähnen. Und doch gab es noch immer diejenigen, die diese materielle, körperliche Dimension des menschlichen Lebens im Namen einer verallgemeinerten Virtualisierung oder Dematerialisierung (vereinfachend ebenfalls ‚Deterritorialisierung‘ genannt) herabwürdigten.

Paradoxerweise, wer hätte das gedacht, offenbart sich jetzt in all ihrer Rohheit die große, das Wirtschaftssystem am Laufen haltende Ungleichheit. Sie besteht zwischen denjenigen, die isoliert bleiben können – annahmegemäß ‚immunisiert‘ in den Schutzräumen (territórios-abrigo) ihrer Wohnungen, ausgestattet mit den wirtschaftlichen Möglichkeiten, dort zu verharren –, und denjenigen, die ohne Gewähr ihrer Selbsterhalt und Erwerb ermöglichenden Räume (territórios-recurso) gezwungen sind, die Stadt zu durchqueren, um Nahrung, Gesundheit, Sauberkeit oder Sicherheit für die gesamte Bevölkerung zu gewährleisten.

Erinnern wir uns an die von Jean Gottman (1973) vorgeschlagene (und später von Milton Santos z. B. in Santos 1996 aufgegriffene) Unterscheidung zwischen dem Territorium als Schutzraum (abrigo) und dem Territorium als Ressource (recurso), so wird deutlich, dass es unmöglich ist, unser Leben ohne das Ineinandergreifen dieser beiden Eigenschaften zu führen. Unsere Wohnungen, als letzter Zufluchtsort, können uns einen gewissen Schutz (abrigo) garantieren, der uns (relativ) vor der Ausbreitung des Virus schützt, aber diese Bedingung verwirklicht sich tatsächlich nur durch die Verschränkung mit dem Zugang zu vielfältigen Ressourcen: dem kanalisierten Wasser und Abwasser, über Kabel geleitete Energie, Telefon über Antenne, Lebensmitteln, die wir besorgen müssen oder die uns vom Supermarkt geliefert werden, Medikamenten aus der Apotheke, Treibstoff von den Tankstellen für den Transport dieser Güter und so weiter.

Es ist lange her, dass wir an unseren Wohnorten autonom ‚behütet‘ (‚abrigados‘) waren. Nur sehr wenige genießen heute dieses Privileg. Aber wir haben noch ein weiteres enormes Privileg, das wir nur selten wahrnehmen. Wir müssen uns darüber bewusstwerden, wie sehr die Sicherheit unserer individualisierten Quarantänen von einer Masse von (vulnerablen) Arbeiter_innen abhängt, die uns den Zugang zu diesen vielen für unser Überleben notwendigen Ressourcen garantieren. Diese Pandemie könnte uns lehren, unsere eigene Fragilität und das Ausmaß unserer Abhängigkeit von den vielen Dienstleistungen anzuerkennen, die von diesen Arbeiter_innen garantiert werden; ihnen gebührt der größte Respekt und die größte Solidarität. An die Fenster zu treten, um dem Gesundheitspersonal zu applaudieren, ist ein schüchterner Anfang.

Im weiteren Sinne besteht die beispiellose und überwältigende Herausforderung, vor die uns diese Pandemie stellt, darin, anzuhalten – mindestens aber zu verlangsamen – oder unterzugehen. Sie legt offen, was vielen unverständlicherweise noch immer nicht klar genug erschien: das Scheitern eines Systems, das der Theorie nach die Idee von Begrenzung abgeschafft und sich selbst zum Souverän des Planeten ernannt hat. Wie ich in einem Artikel vor vier Jahren festgestellt habe, hat die Fluidität der planetarischen Globalisierung im Gegensatz zu den vorherrschenden Diskursen die Frage der Begrenzungen (limites) mit noch größerem Nachdruck auf die Agenda gesetzt:

„[…] Grenzen (limites) als Beschränkung, Eindämmung, mit einer negativen Konnotation, aber auch in dem Sinn, dass sie einen unablöslichen Teil unserer Zivilisationsdynamik konstituieren insofern als, biopolitisch gesprochen, das hegemoniale Gesellschaftsmodell, das auf Akkumulation und/oder kapitalistischem ‚Wachstum‘ gründet, sogar unser Überleben als biologische Spezies auf der Erde aufs Spiel gesetzt hat.“ (Haesbaert 2016: 12)

Sollte dem sofortigen Kampf gegen Prekarität und brutale Ungleichheit keine Priorität eingeräumt werden, werden wir keinen Ausweg haben. Die Verteidigung der biologischen und ethnischen Vielfalt des Planeten erfordert mehr denn je eine planetarische Kultur und Politik des Gemeinsamen (do comum), die die Verringerung der perversen Ungleichheit zwischen den Völkern der Erde an die oberste Stelle setzt.

Zusätzlich zu den sozialen Unruhen, die dieser Zwangsstopp höchstwahrscheinlich auslösen wird (und die bereits in den jüngsten Protesten in Lateinamerika und in verschiedenen Teilen der Welt, vom Libanon bis Hongkong, erprobt werden), könnte er eine ernsthafte Wiederaufnahme der Diskussion zivilisatorischer Pfade hervorrufen. Wenn der ‚große Bruder‘ der extremen Rechten die Gelegenheit nicht nutzt, noch perversere Kontrollen durchzusetzen, könnte dies unsere letzte Chance sein. Die ungeheure Deterritorialisierung bezüglich der aus dem Zwangsstopp resultierenden sozialen Prekarität wird das schonungsloseste Kennzeichen dafür sein, dass wir uns entweder mit den Schwächsten solidarisieren und unser gemeinsames Schicksal anerkennen müssen oder alle zusammen untergehen. Denn das Boot hat sich mehr denn je als ein einziges erwiesen – und es sinkt. Es wird keinen häuslichen oder individuellen Schutzgraben geben, der uns vor diesem Schiffbruch bewahren kann.

II. Zwischen Eindämmung und Einschließung der Körper-Territorien

Die gegenwärtige planetarische Krise, die die Covid-19-Pandemie ausgelöst hat, ist mit Problemen geographischer Natur verwoben. Es ist unbedingt notwendig, dass wir unsere Kategorien im Licht dessen bewerten, was in der Welt geschieht. Territorialität und Prozesse der Deterritorialisierung waren noch nie so relevant wie jetzt, im Kampf gegen die Ausbreitung des Virus.

Es gibt ein wiederkehrendes Muster in den als Eindämmung bezeichneten Maßnahmen, die verschiedene Länder vorantreiben. Sie alle zielen in mehr oder weniger starkem Ausmaß darauf ab, die Mobilität dessen zu kontrollieren, was – insbesondere im dekolonialen feministischen und indigenen lateinamerikanischen Denken – bereits als unser erstes Territorium betont wurde: des Körper-Territoriums. Selbstverständlich ist es nie von der mehr oder weniger stark ausgeprägten territorialen Beherrschung seiner Umgebung und deren Aneignung losgelöst.

Die Kontrolle (und das Gefügig-Machen) der Körper ist bekanntermaßen ein altes Unterfangen, und Michel Foucault (1977) war der Autor, der das Verhältnis zwischen Körper und Disziplin in der modernen Welt am eingehendsten studiert hat. Er schlug ein interessantes Modell vor, das Lepra- und Pestbekämpfungsinitiativen gegenüberstellte. Im ersten Fall wurde das erschaffen, wofür ich die Bezeichnung ‚Territorien der Einschließung‘ (‚territórios de reclusão‘) vorgeschlagen habe und wo es um eine vollständige Abschottung vom Rest der Gesellschaft geht; und im zweiten Fall wurde das eingesetzt, was ich ‚territoriale Eindämmung‘ (‚contenção territorial‘) genannt habe, wobei es sich um den Typ Damm-Mauer handelt, bei dem die Schließung nicht vollständig, sondern relativ und vorübergehend ist und bei dem es immer eine Möglichkeit gibt, die errichtete Barriere zu überwinden um einzutreten – oder zu entfliehen, je nach Perspektive (Haesbaert 2014). Dies ist der Fall bei Grenzmauern, die eher symbolische als konkrete Effekte haben und bei denen es Migrant_innen beständig unternehmen, sie auf irgendeine Weise zu umgehen und andere Wege zu entdecken.

Die Globalisierung der Pandemie hat dieses Spiel zwischen Ab- oder Einschließung und Damm oder Eindämmung auf verschiedenen Maßstabsebenen vorangetrieben. In einer von Netzwerk-Territorien (territórios-rede) geprägten Welt, in der sich die Körper viel schneller und intensiver entlang von Kreisläufen bewegen, die Ströme kanalisieren, Luftstraßennetze vorneweg, ist es keineswegs einfach, Kontrollen vom Typ des Zonen-Territoriums (território-zona) wiederherzustellen, um Mobilität innerhalb von Gebieten unterschiedlich großer Ausdehnung zu verhindern, wie es der Nationalstaat und seine politisch-administrativen Einheiten immer schon (mit immer geringerem Erfolg) angestrebt haben.

Es sind gerade Versuche, zu einer solchen zonalen Territorialkontrolle zurückzukehren, die im Kampf gegen die Ausbreitung des Coronavirus von Anfang an unternommen wurden. Wie zu erwarten war, ist es in dieser unserer neoliberalen Welt China als einem der zentralisiertesten und autoritärsten Staaten gelungen, die bislang größten Erfolge in der Bekämpfung zu erzielen. (Es gibt eine ganze Debatte über die Besonderheit eines ‚chinesischen‘, ‚vielgestaltigen‘ oder ‚Ausnahme-Neoliberalismus‘ in den Begriffen von Aihwa Ong (2006), die hier nicht behandelt werden kann.) Da dort das Geschehen begann und der anfängliche Schwerpunkt – die große Metropole Wuhan – identifiziert wurde, konzentrierten sich die Bemühungen zunächst auf die vollständige Blockade dieser Metropole und der Provinz Hubei. Nur einen einzigen geographischen Anfangsschwerpunkt der Ausbreitung zu haben, war sehr hilfreich – im Gegensatz zu anderen Ländern wie den USA mit Hotspots in den Bundesstaaten Washington, Kalifornien und New York.

Ein Faktor, der im Fall des autoritären chinesischen Regimes entscheidend zu sein scheint, betrifft die Apparate zur Informationskontrolle und Bevölkerungsüberwachung, die im Laufe der Zeit aufgebaut wurden und auf Nachbarschaftskomitees basieren, die jeden Block oder jede kleine Gruppe von Familien überwachen. Hinzu kommen eine konfuzianische Kultur der Disziplin, die organisatorischen Fähigkeiten des staatlichen Gesundheitssystems und die weit verbreitete Praxis des Maskentragens in der Bevölkerung (auch bereits seit längerem, aufgrund der Umweltverschmutzung).

Der Prozess der Quarantäne, der im Falle Chinas Dynamiken der Eindämmung und der Einsperrung kombiniert, war im Zusammenhang mit dem diktatorischen Charakter des Regimes viel strenger als in anderen Ländern. Das Verlassen des Zuhauses wurde rigide kontrolliert – zunächst waren Ausgänge nur alle zwei Tage erlaubt, dann erfolgte eine totale Einsperrung, bei der lediglich die Bestellung von Lebensmitteln und Medikamenten erlaubt war. Schließlich zogen in Wuhan Polizeibeamte von Haus zu Haus, um den Gesundheitszustand zu überprüfen, und im Krankheitsfall folgte routinemäßig Zwangsisolation. Es wurde sogar über eine Kontrolle der Verwendung von Masken mittels Drohnen berichtet, welche sehr häufig als Mittel zur öffentlichen Überwachung eingesetzt werden. Digitale und nicht-digitale Überwachungsapparate waren (seit dem alten hukou, der Aufenthaltskarte) ebenfalls bereits zuvor bei der Mobilitätskontrolle der Bevölkerung weit verbreitet.

Eine grundlegende Kontrolle, die direkt auf das wirkt, was ich Netzwerk-Territorien nenne, betrifft internationale Flüge. Wuhan ist ein wichtiges Luftdrehkreuz mit Flügen in mehrere Länder Asiens (Japan, Südkorea, Taiwan, Thailand, Arabische Emirate, Australien, Singapur, Indonesien, Malaysia…). Es könnte sich zu einem Hauptverteiler von Ansteckungen entwickeln (was teilweise bereits geschehen ist). Viele Länder, wie zum Beispiel Brasilien, hatten das Haupteinfallstor des Virus erst sehr spät unter Kontrolle: die internationalen Flughäfen. Zunächst wurde sich für die zonale Kontrolle einiger Grenzen entschieden, um erst später auf den Flugverkehr einzuwirken – wahrscheinlich unter dem Druck der starken Lobbys der Fluggesellschaften und des Tourismussektors. Angesichts der sogenannten ‚zweiten Welle‘ der Ansteckung durch Personen, die von außerhalb kommen, hat China die Kontrolle der Ankünfte an Flughäfen erneut verschärft und eine zweiwöchige Quarantäne für alle, die im Land ankommen, verhängt.

An dieser eher empirischen Betrachtung der chinesischen Dynamik der Eindämmung und Isolation wird deutlich, wie viel schwieriger es für ein westliches Land und insbesondere für Länder in Peripherien wie Lateinamerika und Afrika sein wird (wo Covid-19 gerade erst anfängt, die ärmsten Gegenden zu erreichen), die gleiche Art und Strenge territorialer Kontrolle umzusetzen. Einige fragen sich angesichts des relativen Erfolgs auch von Ländern wie Südkorea, Taiwan und Singapur, ob China nicht weitergegangen ist als nötig. Eine Maßnahme, die häufig zur Erklärung des Erfolgs dieses Länderblocks genannt wird, betrifft neben der Disziplin bei der Isolation und der sozialen Distanzierung (die außerhalb Chinas weniger rigide ist) das umfängliche Testen der Menschen auf das Virus – besteht doch das größte Dilemma in der Verbreitung des Virus durch asymptomatische Träger_innen. Sie nachzuverfolgen und die Träger_innen des Virus zu isolieren ist entscheidend.

Mit dieser Isolation möchte ich mich im Folgenden beschäftigen. Was wir in den europäischen und amerikanischen Ländern gesehen haben, waren zunächst die Kritik und Ablehnung (sogar von namhaften Intellektuellen wie Giorgio Agamben) des übermäßig restriktiven Charakters der Maßnahmen (wie es der brasilianische Präsident weiterhin sieht, der sich in erster Linie um die Wirtschaft kümmert und die Verantwortung für die Isolationsmaßnahmen den Gouverneuren der Bundesstaaten zuschiebt). Mit der Verschlechterung der Situation änderten jedoch bald darauf viele ihre Meinung radikal, indem sie dieselben Maßnahmen aufgrund ihres zögerlichen Charakters verurteilten und deren noch strengere Anwendung forderten. Dies betrifft insbesondere eine rigide Durchführung der Quarantäne, die heute auf breite Unterstützung in der Bevölkerung stößt (74 Prozent der Brasilianer_innen, laut einer Umfrage des Datafolha-Instituts), vor allem angesichts der beklagenswerten Szenen, die aus Ländern wie Italien und Spanien übertragen werden, deren Gesundheitssysteme als besser aufgestellt gelten.

Eine grundlegende Charakteristik dieser Pandemie, die sich auch geographisch bedeutsam manifestiert, besteht darin, dass die Pandemie an der Spitze der sozioökonomischen Pyramide, unter den privilegiertesten Klassen beginnt. Es genügt, die Karte ihrer anfänglichen Verbreitung in einer peripheren Metropole wie Rio de Janeiro zu betrachten, wo sie zunächst die reichsten Viertel betrifft, in denen international Reisende – die ersten Träger_innen des Virus – ankamen. Die große Frage ist nun, welche Art territorialer Eindämmungsdynamiken im Kontext ‚peripher-kolonialer‘ Realitäten wie denen Lateinamerikas als Kontinent mit der größten Ungleichheit der Welt plausibel ist. Das Virus hat unsere Favelas und Villa-Miserias noch nicht erreicht, ist aber gerade dabei.

Wird – wie bereits berichtet wird – der paramilitärische Apparat der Milizen (milícias) in Aktion treten und Favelabewohner_innen dazu zwingen, zu Hause zu bleiben? Wird es überhaupt effektiv sein, individuelle Isolation zu empfehlen, wo doch bekannt ist, dass allein im Ballungsraum Rio de Janeiros 300.000 Wohnungen nur über ein Zimmer für drei oder mehr Personen verfügen und die meisten dieser Wohnungen Doppelhäuser mit häufig gemeinsamen Fluren und Räumlichkeiten sind?

Kehren wir daher zum Körper-Territorium zurück: Zweifellos müssen wir im Kontext der lateinamerikanischen Kolonialität der Macht nicht in erster Linie über Maßnahmen territorialer Selbst-Eindämmung diskutieren, bei denen der Zugang zu den Favelas blockiert wird (wie es einige Nachbarschaftsvereinigungen von Siedlungen an Hügeln versuchen, die nur einen oder wenige Eingänge haben); vielmehr müssen wir direkt an diejenigen denken, die noch prekarisierter sind und nur den Körper als zu verteidigendes Territorium haben, als einen Raum, über den sie weiterhin versuchen, eine gewisse Kontrolle zu behalten – wo sie doch nicht einmal auf ein eigenes Zimmer in ihren Häusern zählen können. Ein trauriges Schicksal angesichts eines listigen Virus: Es ist praktisch unmöglich, seinen Eintritt in den eigenen Körper zu ‚versperren‘, zu kontrollieren, wenn es nicht einmal das Minimum – Wasser und Seife – für die persönliche Hygiene gibt, wie es jetzt in mehreren von Rios Favelas der Fall ist.

Ohne hier das düstere Bild zu zeichnen, das sich bereits ankündigt (wie die Szenen von in den Straßen Guayaquils abgelegten Leichen zeigen), möchte ich nach den bisherigen theoretischen Reflexionen mit einer weiteren schließen. Die territoriale Eindämmung, wie ich sie in meinem Buch Viver no Limite (Haesbaert 2014) definiert habe, bezieht sich auf die sozioökonomischen Makroprozesse, die letztendlich den subalternen Gruppen die vulnerabelsten Gebiete der Stadt zuweisen – entfernte Peripherien ohne Infrastruktur, ökologisch instabile Hänge, Überschwemmungsgebiete… In jedem Fall sind sie dort abgesondert und in gewisser Weise ‚eingedämmt‘, als ob sie den Rest der Stadt nicht ‚anstecken‘ sollen.

Jetzt aber handelt es sich um eine Eindämmung im umgekehrten Sinn. Die Pandemie, wer hätte das gedacht, hat diese Idee der Eindämmung der Subalternen durch die Hegemonialen untergraben: Es sind die Privilegierten selbst, die sich eindämmen, sich einschließen müssen, denn sie waren es, die im lateinamerikanischen Fall zu Beginn ‚das Übel in sich trugen‘. Auch wenn viele ihre Haushaltsgehilfinnen gebeten haben, zu Hause zu bleiben, muss die Mobilität zahlloser Arbeiter_innen – Pförtner_innen, Reinigungskräfte, Straßenkehrer_innen, Angestellte in Supermärkten, Tankstellen und Apotheken, ganz zu schweigen von den Angehörigen der Gesundheitsberufe – gewährleistet werden, wenngleich unter Bedingungen großer Vulnerabilität (wie in den überfüllten öffentlichen Verkehrsmitteln Rio de Janeiros).

Die Unaufgeklärten sagen jedoch, das Virus sei ‚demokratisch‘, es betreffe ‚alle gleichermaßen‘. Das Virus hat nichts Demokratisches an sich – erstens, weil es am brutalsten die ohnehin schon Geschwächten trifft: alte, kranke, behinderte Menschen und nun auch die Ärmsten; zweitens, weil dessen Bekämpfung die Selbsteindämmung (oder vorübergehende Isolation) erfordert, die nur für die Reichsten wirklich möglich und sicher ist, die über die Mittel zur sozialen Distanzierung und Isolation verfügen.

So haben wir aus den verschiedenen Mechanismen der pandemiebezogenen territorialen Eindämmung viele geografische Lehren zu ziehen. Wir lernen, dass in einer so technologiereichen ‚Informationswelt‘ am Ende das, was wirklich weiterhin von Bedeutung ist, unser Körper ist, das Körper-Territorium als letzte und unausweichliche Bedingung unserer Existenz. Sei es das Schema ‚Lepra‘, bei dem wir mittels definitiver Einschließung eingesperrt werden, oder das Modell der Pest mit ihrer zeitweisen Eindämmungsquarantäne – jedes hat zum endgültigen Ziel die Kontrolle über die Körper. Schließlich bleibt abzuwarten, wer weiterhin die Kontrolle über die Gesamtheit der Bevölkerung und ihre Körper-Territorien ausüben wird. Zweifellos muss eine andere Biopolitik entwickelt werden, die sich um Zuneigung und Fürsorge dreht. Nur eine Warnung: Der angebliche Erfolg des chinesischen autoritären Modells ist eine Illusion. Hinter ihm verbergen sich – abgesehen von einer unbeschränkten individuellen Überwachung – ein völlig bankrottes Wachstumsmodell und ein ungezügelter Konsumismus. Bei deren Zertrümmerung könnte uns die Pandemie helfen (eine Utopie).

Übersetzung aus dem Portugiesischen von Johanna Hoerning und Jan Hutta. Die portugiesische Fassung des Textes ist ebenfalls verfügbar.

Autor_innen

Rogério Haesbaert ist brasilianischer Humangeograph. Seine Arbeiten beschäftigen sich mit den Verflechtungen zwischen Territorialisierung und Deterritorialisierung, Territorialität und Identität sowie Region und Regionalisierung.

riocult@yahoo.com

Literatur

Bauman, Zygmunt (2003 [1998]): Der Mensch im Globalisierungskäfig. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Foucault, Michel (1977) [1975]): Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Gottman, Jean (1973): The Significance of Territory. Charlottesville: University Press of Virginia.

Haesbaert, Rogério (2004): O mito da desterritorialização. Do “fim dos territórios” à multiterritorialidade. Rio de Janeiro: Bertrand Brasil.

Haesbaert, Rogério (2014): Viver no limite. Território e multi/transterritorialidade em tempos de in-segurança e contenção. Rio de Janeiro: Bertrand Brasil.

Haesbaert, Rogério (2016): Limites no espaço-tempo: a retomada de um debate. In: Revista Brasileira de Geografia 61/1, 5-20.

Ong, Aihwa (2006): Neoliberalism as Exception: Mutations in Citizenship and Sovereignty. Durham e Londres: Duke University Press.

Santos, Milton (1996): A Natureza do Espaço. São Paulo: Hucitec.

United Nations (2020): Migration. https://www.un.org/en/sections/issues-depth/migration/index.html (letzter Zugriff am 18.5.2020).