Liebe Leser:innen,
seit den Anfängen der sozialwissenschaftlichen Beschäftigung mit Stadt ist die ungleiche Verteilung städtischer Bevölkerungsgruppen ein zentrales Thema innerhalb der Stadtforschung. Der Begriff „Segregation“ ist dabei ein Schlüsselbegriff. Ansätze der kritischen Stadtforschung beleuchten in diesem Kontext strukturelle Bedingungen der Entstehung residentieller Segregation und untersuchen dabei Marktzugänge, staatliche Regulierungen, Zuweisungen und Diskriminierungsmechanismen. Zugleich finden sich Arbeiten und Politiken, die in der Beschreibung von Segregation und der Untersuchung ihrer Auswirkungen Ungleichheiten und Stigmatisierungen eher festschreiben, als Hinweise zu ihrer Überwindung zu geben – etwa wenn Armut, Migration und Kriminalität zu Bildern segregierter „Problemviertel“ verwoben und zugleich Phänomene elitärer Segregation ausgeblendet werden. Dies wirft die Frage auf, ob es einer kritischen Wende in der Forschung zu Segregation und ihren Auswirkungen – auch jenseits der Analyse ihrer strukturellen Entstehungsbedingungen – bedarf und wie diese aussehen kann.
Arbeiten aus der Migrationssoziologie verweisen zum Beispiel schon lange auf mögliche unterstützende Funktionen der lokalen Konzentration von migrantischen Bewohner_innen, Vereinen und anderen Infrastrukturen, die aktuell unter Schlagworten wie „arrival city“, „arrival neighborhoods“ oder „arrival infrastructures“ diskutiert werden. Damit geht oft auch der Anspruch einher, die negativen Konnotationen des Begriffs „Segregation“ neu zu rahmen. Jedoch entsteht so auch das Dilemma, dass benachteiligende Prozesse und Effekte aus dem Fokus geraten können.
Während in der Diskussion zu Segregation meist auf den Wohnort geschaut wird, können räumliche Aspekte von Segregation sich darüber hinaus auf die Nutzung städtischer Räume und Infrastrukturen beziehen. So sind Schulen oft sozial segregierter als Wohnviertel, und auch die Alltagsmobilität sozialer Gruppen unterscheidet sich. Räumliche Segregation ist hier zugleich Ausdruck sozialer Ungleichheiten, Differenzierungen und Diskriminierungen in städtischen sowie anderen Räumen und kann diese weiter verstärken.
Weitere wichtige Fragen sind, wie Politik und Verwaltung mit Segregation umgehen und welche Rolle in diesem Prozess soziale Kategorisierungen und politische Leitbilder wie das der „sozialen Mischung“ spielen. In diesem Feld sind wichtige Arbeiten entstanden, die zeigen, wie mit dem Schlagwort „Segregation“ vor allem städtische Viertel belegt werden, in denen vorwiegend arme und/oder migrantische Haushalte wohnen und die in Öffentlichkeit und Politik oft problematisierend als „Parallelgesellschaften“ bezeichnet werden.
Ausgehend von diesen Überlegungen freuen wir uns über Einreichungen zu folgenden Aspekten des Themas „Segregation“:
- Theoretische und konzeptionelle Fragen: Wie kann kritische Forschung zu Effekten von Segregation aussehen? Welche Identitätsmerkmale und Kategorisierungen werden in der Segregationsforschung herangezogen und welche Berechtigung haben sie? In welchem Verhältnis steht Segregation – als Begriff in öffentlichen Debatten und als Forschungsgegenstand – zu Rassismus und Klassismus? Ist die Rolle kritischer Forschung vor allem, Begriff, Debatten, Perspektiven und Forschungsfelder kritisch zu reflektieren, oder sollte sie sich auch stärker als bisher in die (quantitative) Forschung zu sozialer Ungleichheit und Raumeffekten einbringen?
- Neue Felder der Segregationsforschung: Räumliche Mobilität und Digitalisierungsprozesse verändern seit Langem die Relevanz des Wohnorts als Zugang zu sozialen Netzwerken, Dienstleistungen oder Bildung und Arbeit. In den vergangenen Jahren gibt es vermehrt Forschung zu Mobilitätssegregation und zu verschiedenen Alltagsbereichen wie Arbeit, Transport oder Freizeit, die aus dem Blickwinkel von Segregation betrachtet werden. Welche Perspektiven auf räumliche Segregation eröffnen sich dadurch? Digitalisierung verändert die Relevanz von Verortungen. Die Nutzung des öffentlichen Raums ist – zum Beispiel durch die Verwendung von Smartphones, digitalen Karten und Navigation sowie sozialen Medien – stark mit der Nutzung des digitalen Raums verwoben. Ergeben sich hieraus neue Perspektiven auf räumlich getrennte Funktionen der Stadt und Nutzungen des Stadtraums? Inwiefern hängen digitale Segregationsprozesse (z. B. über Algorithmen, social media bubbles, Zugänge etc.) mit sozialräumlichen Trennungen von Stadtnutzung zusammen? Welche Rolle spielen dabei symbolische Aspekte räumlicher Segregation? Welche theoretischen und methodischen Ansätze sind für solche und weitere neue Felder innerhalb der Segregationsforschung nutzbar?
- Empirische Tendenzen und Beobachtungen: Sich auch außerhalb von Innenstädten ausbreitende Gentrifizierungsprozesse und weiter zunehmende Wohnungsknappheit verändern potenziell Formen und Räume der Segregation. Gibt es hier neue empirische Tendenzen und Beobachtungen? Wie sehen mögliche Muster räumlicher Mikrosegregation in ansonsten sozial „gemischten“ Quartieren aus? Welche Erkenntnisse bieten sich, wenn auch soziale Kategorisierungen jenseits von sozialem Status und Migrationsgeschichte, wie Alter, Religion, Gender, LGBTIQ, in die Analyse einbezogen werden? Unter welchen Bedingungen nimmt Segregation ab?
- Umgang mit Segregation in Politik, Planung und Wohnungswirtschaft: Die Kritik an dem Umgang mit Segregation und dort dominierenden Leitbildern wie der sozialen Mischung in Politik, Planung und Wohnungswirtschaft ist nicht neu. Noch immer scheint diese bereits seit Jahrzehnten formulierte Kritik in Politik und Verwaltung jedoch nicht wesentlich zu verfangen. Welche Ursachen hat das? Oder existieren in Politik und Planung neue Ansätze, Konzepte und Leitlinien, die zu einem neuen Umgang mit Segregation und „sozialer Mischung“ führen könnten und denen mehr Aufmerksamkeit geschenkt werden sollte?
Wir freuen uns über Vorschläge zu Aufsätzen ebenso wie zu Debatten- und Magazinbeiträgen oder Rezensionen (mehr zu den Rubriken hier). Dazu bitten wir um die Einreichung von Abstracts im Umfang von 300-500 Wörtern bis zum 7.6.2024. Vollständige Beiträge bitten wir nach Einladung bis zum 1.11.2024 einzureichen; Aufsätze durchlaufen ein Peer-Review-Verfahren. Wir bitten um die Beachtung der Richtlinien für Autor_innen. Einreichungen von Vorschlägen bitte als Word-Datei an info@zeitschrift-suburban.de.
Herzliche Grüße
die Redaktion von sub\urban
Kristine Beurskens, Laura Calbet i Elias, Nihad El-Kayed, Nina Gribat, Stefan Höhne, Johanna Hoerning, Jan Hutta, Michael Keizers, Yuca Meubrink, Boris Michel, Gala Nettelbladt, Lucas Pohl, Nikolai Roskamm, Nina Schuster, Lisa Vollmer